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Das Betrachten der Schneeflocken, die langsam von den grauen Wolken rieselten, erfüllte Artus mit Gelassenheit. Gleichzeitig machte sich jedoch Verzweiflung breit, ausgelöst durch den Anblick seiner geliebten Stadt, die nun zerstört vor ihm lag. Als er durch das Fenster des letzten, noch intakten, Sturmwacht-Turmes blickte, konnte er für einen Moment fast vergessen, dass er Artus war, der Schwertbruder und König der Briten. Er war jetzt wieder nur ein kleiner Junge, der die Schneeflocken leise vom Himmel fallen sah. Diese Erinnerung war einer der Gründe, dass er immer gerne als Sturmwächter diente, so wie es alle Bewohner seines Reiches, nach seiner Anordnung, taten. Seine Untertanen wären möglicherweise bestürzt gewesen, hätten sie gewusst, dass er vor seinem geistigen Auge die Tage zählte, bis es wieder seine Zeit war, Ausschau nach Zeichen der gefürchteten Veilstürme zu halten.

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Während er die Schneeflocken betrachtete, wurden seine Gedanken finsterer, als er an das Elend seines Volkes dachte. Der Zweite Weltenbruch stand kurz bevor und der Untergang seines geliebten Camelot, der einzig wahren Stadt dieser Welt, war fast beendet.

Seine Begleiter suchten nach Nachzüglern in der brennenden Stadt und sollten mittlerweile bei den letzten Runden angelangt sein. Sobald sie sich sicher waren, dass die Stadt tatsächlich leer war, würden sie die letzten Stabilisatoren entfernen und die Zerstörung der einzig wahren Stadt würde unaufhaltsam fortschreiten. Wenigstens hatten ihm seine Brüder die letzte dubiose Ehre erwiesen, selbst den noch allerletzten Stabilisator aus seiner Stadt zu entfernen und somit den Kontinent, auf der die Stadt ruhte, zu lösen.

„Möge Hel sie alle verdammen oder welche scheußliche Macht sie auch immer nun anbeten!“, murrte er. Es war seine Stadt und er würde das alles nicht zulassen. Letzten Endes war er immer noch Artus. Er rief: „Wo bist du jetzt, mein Mentor?“ Ich brauche deine Hilfe noch einmal, so wie einst, als ich noch jung war“, doch er wusste, dass Myrddin lange fort war. Die Prophezeiung hatte sich erfüllt und Artus wusste, dass er nichts dagegen tun konnte.

Er erinnerte sich daran, wie schwierig es zu Beginn gewesen war. Wie unglaublich mühsam es war, seine Brüder davon zu überzeugen, etwas Neues aufzubauen, endlich zusammenzuarbeiten, vereint durch ihren Glauben an die Eine Wahre Stadt. Sich die Stabilisatoren und die eigenen Kräfte zu Nutze zu machen, um neues Land vom Meeresgrund zu erschließen. Es hatte all seine Kraft, jedes Quäntchen seines Glaubens und Gwens Einfallsreichtum gebraucht, um sie davon zu überzeugen, dass er nicht verrückt war. Dass sie sich zusammentun konnten, zusammen diese Stadt aufbauen konnten, um die Vision Camelots zum Leben zu erwecken. Alles was noch von der Erschaffung übrig war, war für einen winzigen Augenblick in der strahlenden Stadt vereint.

Artus seufzte, als er die Schritte seiner Gefährten hinter sich wahrnahm. Er löste sich von seinen Gedanken und vom Anblick des Fensters. Er drehte sich zu den zweien um, die er auf dieser Welt am meisten liebte. Einer von ihnen war ein Sturmreiter, der Sturmhauptmann des Landes und die andere war seine Gwen. Er wusste, dass sie mit der gleichen Trauer erfüllt waren, die ihn selbst so gnadenlos heimsuchte, doch sie waren zu stolz, es offen zu zeigen. Er lächelte unglücklich, wissend, warum sie gekommen waren.

„Es ist Zeit, nicht wahr?“, fragte Artus.

„Ja mein Herr, es ist Zeit“, antwortete der Sturmreiter, „Die Stadt ist geräumt und wir sind die Letzten, die noch in diesen Gemäuern verweilen. Selbst die Ratten haben uns bereits verlassen.“

„Mir fallen da ein paar ‚Ratten‘ ein, bei denen ich wünschte, sie wären geblieben“, sagte Gwen verbittert. „Wir hätten sie niemals die Stadt lebend verlassen lassen dürfen, Artus!“

„Wir hatten keine Wahl, Gwen“, sagte Artus und schüttelte den Kopf. „Ich habe getan, was nötig war, um Leben zu retten.“

„Aber es war deine Stadt, mein Geliebter“, sagte Gwen und verzog ihr schnurrbärtiges Gesicht zu einer Grimasse. „Es war dein Traum, den sie zerstörten.“

„Nein, es war nicht meine Stadt“, sagte Artus, der jetzt lauter wurde. „Dieser Gedanke erlaubte es überhaupt erst, dass es so gekommen ist. Siehst du das nicht? Verdammt noch mal Gwen, es war unsere Stadt! Sie gehörte nicht nur mir allein und auch nicht meinen Brüdern! Sie gehörte dir, sie gehörte allen Reichen und all den Leuten darin! Warum haben sie das nicht erkannt? Warum konnten sie nicht verstehen, dass Myrddin am Ende doch Recht hatte?“

„Weil die Verwandelten letztendlich nicht perfekt sind, Artus“, sagte der Sturmreiter „Nicht einmal ich bin es“, fügte er mit einem Grinsen hinzu.

Meistens hätte der klägliche Versuch des Sturmreiters zu scherzen ein Lächeln und eine sarkastische Bemerkung seitens Artus hervorgerufen, heute jedoch nicht. Es war an der Zeit, das zu tun, wovor er sich am meisten gefürchtet hatte: Er musste die Treppen hinaufsteigen, um den letzten noch verbliebenen Stabilisator zu entfernen. Er sagte still Lebewohl zu dem Raum und der Stadt und stieg weiter den Sturmwacht-Turm hinauf. Seine Freunde folgten ihm schweigsam den Weg hinauf, den er sonst so sehr genossen hatte.

Als sie an der Spitze des Turmes ankamen, leuchtete der Stabilisator stärker denn je. Der komplizierte mechanische Apparat summte, das kreiselnde Getriebe dröhnte. Es war ein komplizierter Mechanismus mit beweglichen Abzweigungen, die es tatsächlich wie einen Baum aus Metall, um eine saphirfarbene Kugel, aussehen ließen. Artus nahm an, dass der schimmernde Effekt von der Anstrengung des Stabilisators kam, der vehement versuchte, das Land zusammenzuhalten.

Über dem Rand der Brüstung warteten bereits drei Flugtiere. Ihre langen und geschmeidigen Hälse bogen sich, als ob auch sie traurig auf die zusammenfallende Stadt blicken würden. Obwohl diese Drachen nicht ganz so intelligent waren, wie manch andere ihrer Art, hatten sie vor langer Zeit gelernt, die Empfindungen derer in ihrer Nähe wahrzunehmen. Ihre Fähigkeiten mussten überfordert sein, dachte Artus. Er glaubte, eine Träne im Auge eines der Flugtiere gesehen zu haben, aber ebenso wie die Stille der Stadt, war auch das eine Illusion.

Artus ging zu dem letzten Stabilisator, griff nach ihm und hielt mitten in der Bewegung inne. Der König gab seinen Gefährten ein Zeichen, zu ihm herüberzukommen. „Wir haben diese Stadt gemeinsam aufgebaut. Wenn sie schon zerstört werden muss, dann sollten wir auch das gemeinsam tun.“

Sie nickten einwilligend. Sechs Hände und ein Schwanz griffen nach dem letzten übriggebliebenen Stabilisator. Seltsamerweise ließ er sich nicht so leicht entfernen. Der Stabilisator war nicht lebendig und doch schien er sich gegen seine Entwurzelung zu wehren. Am Ende war auch das jedoch nur eine Illusion. Mit einem letzten Ruck zogen sie den Stabilisator aus dem Sockel. Artus hätte schwören können, ein Seufzen gehört zu haben, als es sich löste, aber wahrscheinlich war es seine eigene Stimme gewesen. Er verstaute den surrenden mechanischen Baum in seinem Rucksack, schnallte ihn auf seinen Rücken und ging zu seinem Flugtier.

Mit Leichtigkeit glitt Artus in den Sattel, so wie er es gelernt und schon Jahre lang getan hatte. Abermals drohte ihn die Traurigkeit zu überwältigen. Er streichelte über den pelzigen Hals seines Flugtiers und schwang mit ihm in die Lüfte.

Im Nu stiegen er und seine Gefährten in den Himmel auf. Hoch über der Stadt beobachteten sie, wie die Zerstörung ihren Lauf nahm. Das Entfernen des Stabilisators war, als würde man den Stöpsel aus einer vollen Badewanne ziehen. Gebäude, die seit Jahrhunderten allem getrotzt hatten, schwankten, nun da das Land unter ihnen zerbrach. Abgründe taten sich in der Erde auf und begannen unaufhaltsam die brennende Stadt, mit all ihren Straßen und Alleen, zu verschlucken, als ob sie am leben wären. Als Artus den Anblick nicht länger ertragen konnte, wandte er sich seinen Gefährten zu.

„Lass uns gehen und diesen traurigen Anblick hinter uns lassen, Artus“, sagte der Sturmreiter. Man konnte den Edelstein auf seiner Stirn funkeln sehen, als er nach oben sah. „Es gibt hier nichts weiter für uns zu tun, mein Freund“, fügte er hinzu.

„Doch, etwas gibt es noch“, antwortete der König.

„Und was wäre das, mein Geliebter?“, fragte Gwen.

„Vergesst niemals, dass es für einen kurzen, strahlenden Moment, eine Stadt namens Camelot gab“, sagte Artus.

„Wir Cait Sith haben ein exzellentes Erinnerungsvermögen. Du weißt, dass wir nichts vergessen, nicht einmal Dinge, die wir am liebsten vergessen würden“, sagte Gwen.

„Auch ich werde mich daran erinnern, Artus“, sagte der Sturmreiter. „Niemals werde ich vergessen, wer dich betrogen hat.“

„Ich weiß, dass du das nicht wirst, Lancelot“, antwortete Artus. „Wie immer zähle ich auf dich.“

Die Flugtiere breiteten ihre Flügel aus und stießen im großen Bogen hinab, während ihre langen Schweife sich im Wind kräuselten. Artus verabschiedete sich leise von der Stadt und schwor einen fürchterlichen Eid. Bis zum heutigen Tag weiß nur er, was für ein Eid das war.

Artus, Gwen und Lancelot schmiegten sich an ihre Sättel und wiegten mit grimmigen Gesichtern im Rhythmus der Flügelschläge. Sie flogen in den Himmel hinauf und drehten sich gen Heimat. Vermutlich wussten sie insgeheim, dass nicht alle von der Zerstörung Camelots erschüttert waren. Tief im Inneren der Erde schallte ein Lachen durch The Depths.

Als sie weit oben über der zerfallenden Stadt waren, erinnerte sich Artus, was Myrddin ihn gelehrt hatte. Ein König muss sich besser erinnern können, als sein Volk. Das Ritual des Gedächtniswanderns begann mit einem reinigenden Atemzug, dem Schütteln von Armen und Kopf und einem simplen Vers: „Denn es gibt keinen…geeigneteren Ort…als hier in…“ und schließlich öffnete er seine sich weitenden Augen. Sein Blick haftete immer noch ruhig am Horizont, während Artus in die Tiefen seines Verstands abdriftete, auf der Reise in die Vergangenheit, zu dem Tag, an der er sich so gut erinnern konnte…

 

Weiter geht es im zweiten Teil.

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