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Die Berserker

Geselle dich nun zu mir, junger Úlfhéðnar, und höre von dem Verhängnis, in das du geboren wurdest. Du wirst viele Dinge erfahren. Du wirst von unserer Mutter, dem Schmerz und Leid und unserem Vater, der Blutlust erfahren. Du wirst vom großen Wyrm und seinem schleichenden Gift erfahren. Du wirst erfahren, wie deine Kraft geschmiedet wurde und weshalb die Kosten, sie zu führen, so gewaltig sind.

In den Äonen vor dem Durchstoßen des Veils, als die alten Götter noch auf Erden wandelten, gewöhnte sich unser Volk daran, die Bitterkeit des Krieges zu lieben. Unsere Ahnen reisten furchtlos, erobernd und brandschatzend zu Land und See. Wir kämpften sicherlich für Gold und Raubgut, doch unsere wahre Liebe war der Geschmack der Schlacht: Unsere Ehemänner, das klirren von Stahl, unsere Ehefrauen, der Geruch von Blut, unsere Kinder, die Leichen der glorreichen Toten. Bis zum heutigen Tag suchen wir in Ragnarök nach Antworten und das Donnern eines Speeres auf einem Schild hallt in unseren Herzen.

Die mysteriösen Stürme aus dem Himmel verwandelten unsere Herzen für alle Zeit.

Als sich diese Veilstürme erstmals in unseren Landen ausbreiteten, frohlockten wir, in der Hoffnung, das endlich die Zeit der Ragnarök gekommen war. Wir schärften unsere Klingen und sangen die alten Lieder, bereit für die letzte Schlacht.

Doch die wilden Stürme brachten nicht das Verderben der Götter. Es gab keine Poesie, keine Richtigkeit mehr im Land; die Stürme wurden von rätselhaften Mächten erschaffen, die von weit her stammten, ja sogar jenseits des großen Ásgarðr.

Die Geschichte, für die ich dich hier her gerufen habe, handelt von einer Familie, die in solch einem Sturm gefangen wurde.

Es war ein dunkler Tag und das Spiel der Kinder war verhalten. Die Hügel betrachteten, wie die Winde über das Gras strichen, lange und gewundene Wolken mit sich brachten, die vor Magie knisterten und den Himmel in endlose Streifen von Dunkelheit färbten, während sie hoch droben heraneilten. Die Kinder erstarrten vor Ehrfurcht und beobachteten, wie der Sturm näher kam.

Ihre Mutter Embla war im inneren des großen Bauernhauses, das sie vor Jahren aus mächtigen Eichen gebaut hatte, und ordnete die Beute ihrer letzten Reise. Ihr Vater Askr war in der Sägemühle, wo er die Planken eines mächtigen Langschiffes hobelte. Keiner von beiden sah, wie sich die Wolken formten. Keiner von beiden konnte die Schreie der Kinder vernehmen, als der Donner die Hügel erbeben und die Luft erschaudern ließ. Keiner von beiden wusste, dass der Sturm sich zusammenbraute und ein riesiger Wolkenstrom sich aus dem Himmel wand, um ihre Kinder wie eine hungrige Schlange zu verschlingen.

In den Verfluchten Landen nennen sie so etwas eine Malvolenz, den schrecklichsten Sturm aus der jenseitigen Hölle.

Der Sturm erschütterte die Wände ihres Hauses und Embla rannte zur Tür, um ihre Kleinen hereinzurufen. Sie spähte hinaus in den niederplatzenden Regen und spürte die fürchterliche Kraft der Magie an ihrer Haut zerren. Die Kinder waren nirgends zu sehen: Vom Zaun zum Gemüsegarten, vom alten Stumpf zum Holzhaufen, nirgends war ein Zeichen von ihnen, nur ein paar Holzspielzeuge, die verstreut auf dem Boden lagen.

Nach Askr rufend, rannte sie in das Unwetter, die Arme zum Himmel gestreckt, als würde sie um Hilfe flehen. Aber der wilde Sturm pfeifte nur noch lauter, zerstörte das Haus hinter ihr und schleuderte Bäume in den Himmel. Embla rannte hin und her, suchend und rufend, während der Wind und die Magie alles um sie herum zerfetze, nur sie blieb unberührt, als wolle er sie grausam verhöhnen.

Askr fand sie schluchzend im schwarzen Regen. Als Embla ihm sagte, dass der Sturm ihre Kinder mit sich gerissen hatte, brüllte er vor Trauer und schrie in den verdunkelten Himmel. Er schwor Rache und schwang seine Axt vor Zorn, aber es gab nichts zu bekämpfen. Er rief die Stärke des Kriegsgottes Týr an, doch es gab keine Antwort. Er suchte erbittert nach irgendeiner Spur seiner Kinder, doch Embla hatte bereits gesucht. Wie bei einem Raubzug, war der Sturm niedergefegt und hatte sie ihres wertvollsten Besitzes beraubt.

Das Paar beobachtete durch Tränen getrübte Augen, wie das Unwetter seinen Groll erschöpfte und davon wogte. Die Dunkelheit gleitete über den Himmel. Ein paar weiß glühende Augen brannten inmitten des verschwindenden Sturms, aus der Ferne ihre Schwäche verhöhnend.

Sie waren Eltern; ihre Kinder waren fort. Askr und Embla weinten über Stunden, ergossen ihren Schmerz in die Erde. Sie hielten einander erbittert, zwei Gestalten allein in der verwüsteten Landschaft. Es war die Art unseres Volkes von anderen zu nehmen; sie wussten nicht, wie sie solch einen Verlust verkraften sollten.

Als ihre Tränen erschöpft waren, flehten Askr und Embla den Allvater um die Weisheit und die Erkenntnis, um aufzuspüren was verloren ward. Sie gelobten einen unumstößlichen Schwur, die Welt zu durchkämmen, bis sie ihre vermissten Kinder gefunden hätten. Mit nicht mehr als Askrs Axt und der unbekannten Trauer auf ihren Lippen, machten sie sich auf den Weg durch das verdorbene Land.

Sie streiften für viele Jahre umher, ohne etwas zu finden. Sie liefen bis ihre Füße schleiften, ihre Schuhe lösten sich in Stücke auf und ihre Kleider zerfielen zu Fetzen. Sie hatten die Veilstürme, die das Land zerrissen, und die Schlachten, die ihr Volk für Ruhm ausfocht, mit kaum mehr als einem Kratzer überstanden.

Durch die sie umgebende Verwüstung, stumpften Askr und Embla ab. Sie waren zu schmerzerfüllt, um anderen Leuten, die sie passierten, deren Leben durch Stürme oder Kriege dezimiert waren, eine helfende Hand zu reichen. Sie fanden nichts über jenen verachtungsvollen Sturm oder ihre Kinder heraus. Dennoch setzten sie ihre Suche fort, angetrieben durch ihre bittere Trauer und vergebliche Hoffnung.

Eines Tages stieß das Paar auf eine kleine Siedlung, die sich im Griff eines heftigen Veilsturms befand. Von einem Hang aus, hoch über dem Dorf, beobachteten sie entgeistert, wie die Wolken dunkler und dunkler wurden, knisternd von Magie. Der Veilsturm entwickelte sich zu etwas, das sie eine Malvolenz nennen. Der Wind zerrte an den Gebäuden als schwarzer Regen fiel und magische Kräfte die Erde zersprengten. Die Dorfbewohner versuchten sich in Sicherheit zu bringen und schrien um Hilfe unter den wirbelnden Wolken, aber Askr und Embla waren zu erschöpft, um zu reagieren.

Die Wolken wichen für einen Moment zurück, um einen rothaarigen Mann, der aufrecht auf dem Dorfplatz stand, zu enthüllen. Als der Wind seine Kleidung umherpeitschte, hob er seinen Arm, um einen kleinen Jungen an seiner Seite zu schützen. Sie hatten die gleichen feuerroten Haare: Der Junge war sein Sohn. Schwarze Blitze schlugen um ihn herum in den Boden, aber der Mann wich dennoch nicht von der Stelle und verteidigte mit aller Macht seinen Sohn.

Durch diesen Anblick veränderte sich etwas in den Herzen der erschöpften Reisenden. Ein Vater, der sein Kind vor dem Sturm verteidigte, der alles in seiner Macht stehende tun würde, sogar sein eigenes Leben geben würde, für seinen Sohn. Sie fühlten sein Leid, seine Furcht um sein Kind, als wäre es ihr eigenes. Vorangedrängt durch das zerreißende Grauen in ihrer Brust, stolperten Askr und Embla die Bergflanke hinab.

Unten verdichtete sich die Dunkelheit, während die Malvolenz begann sich zu winden und Form anzunehmen. Zwei weiß glühende Augen glimmten in den donnernden Wolken, ein schreckliches Fauchen fegte wie eine gewaltige Welle über den Boden und ebnete Gebäude ein. Der rothaarige Mann stand noch immer. Zitternd zog er ein glänzendes Schwert, hielt es hoch und rief trotzig in den Himmel, der ihn übertönte.

Askr und Embla rissen ihre Augen weiter auf und beeilten sich noch mehr, als die Sturmwolken sich immer weiter verdichteten. Eine enorme Schlange begann feste Form anzunehmen und umschlang die gesamte Siedlung. Ihr gewaltiger Kopf fegte hinab, um dem kleinen Vater auf dem Platz in die Augen zu blicken, während ihre Zunge aus Blitzen umherzüngelte.

Das eilende Paar schaute einander an. Sie wussten, sie würden zu spät kommen.

Aufschreiend zu den schweigenden Göttern, fühlten Askr und Embla wie in ihren Seelen eine Wut aufzusteigen begann. Sie sahen, dass keine Hilfe kam; es gab keinen Ausweg für den Jungen dort unten; es gab keine Gnade im Sturm. Kein Schmerz kommt dem Schmerz gleich, den Eltern fühlen, die ein Kind verlieren. Sie wussten plötzlich und für alle Zeit, dass die Welt Chaos und Lärm ist und nirgendwo ein Sinn ergründet werden kann. Ihre Rage brüllte weiß glühend in ihrem Verstand und brach als zorniges Gejaule aus ihnen heraus. Ihre Herzen schlugen schneller. Speichel schäumte aus ihren Mündern und ihre Augen traten aus deren Höhlen hervor.

Der Sturm erwiderte dies durch ein Prasseln, seine Magie reagierte auf den mächtigen Willen der trauernden Eltern. Egal ob Allvater Odin schließlich ihre Gebete erhört hatte, oder ob die Magie des verachtungsvollen Sturms sie verändert hatte, nun fuhr die Schnelligkeit des Fenriswolfes selbst in ihre Glieder. Askr und Embla fegten den Hang wie eine Lawine hinab und der Grund bebte unter der Wucht ihrer Schritte.

Auf dem Dorfplatz nahm der rothaarige Mann Haltung an und setzte sein Schwert zum Schlag gegen die monströse Schlange an. Er war ihrer Kraft jedoch nicht gewachsen und die Klinge zersprang, als sie die Schuppen der schrecklichen Bestie trafen. Der Kopf der Schlange spaltete sich zu einem enormen Grinsen, als ihr Mund sich öffnete, um den tapferen Mann innerhalb eines Augenblicks zu verschlucken.

Furchtlos stand der Junge nun alleine. Er erfasste den Griff des zerbrochenen Schwertes seines Vaters und versuchte es hochzuhieven, doch er war zu schwach, um es zu heben und die mächtige Waffe streifte über den Boden. Mit gefühlskaltem Hunger in ihren Augen, begann die aus dem Sturm geborenen Schlange ihre Windungen anzuspannen und ihren Kopf für einen weiteren Angriff zu heben. Der Junge starrte nur trotzig hinauf zur Kreatur.

In diesem Moment erreichten Askr und Embla den Dorfplatz und stellten sich zwischen die Schlange und ihre winzige Beute. Askr erhob seine alte Holzaxt und brüllte. Magie floss über und um das Paar und veränderte sie in hohem Maße, nun erschienen sie als mächtige Krieger statt als gealterte Wanderer.

Die Blitzzunge der Bestie züngelte und sie erkannte augenblicklich deren Geruch. Fauchend vor Verachtung, öffnete sie ihren Mund und entfesselte eine Flut dunkler Magie, die mit all der Macht des Veilsturms selbst durch die Luft in Askrs Richtung fegte. Der Zauber hätte ihn in Stücke gerissen, wenn seine Frau nicht sofort reagiert hätte. Sie kannte keine magischen Worte, sie wusste nur, dass der Sturm versuchte ihn ihr fortzunehmen; Emblas Zorn kanalisierte Macht in ihre Seele. Sie riss ihre Hände nach oben, Magie wanderte durch ihre Finger und ein cleveres Spinnennetz der Macht glühte in der Luft über Askr.

Die dunkle Magie prallte gefahrlos vom Netz ab, das hell in der Dunkelheit schimmerte. Beunruhigt attackierte das Biest Embla mit einem plötzlichem Angriff. Sie sprang gewandt zur Seite und wäre dem Biest vollkommen entkommen, doch einer seiner glänzenden Fangzähne schnitt durch ihren verschlissenen Schuh in ihren Knöchel.

Askr drehte sich, als der Kopf der Schlange auf den Boden aufschlug. Durch den Schleier des Zornes wusste er, dass er dank der Magie seiner Frau, lebendig und unverletzt war. Er hob seine Axt und jaulte. Der Ton, der aus seiner Kehle fegte, donnerte als Klageruf durch den Mahlstrom, angefüllt mit der Trauer und den Verlusten seines Volkes, von deren es viele gab: Die unzähligen verschlungenen Kinder, die zu bloßem Stein zermahlenen Dörfer und Höfe, und der rothaarige Vater, der seinen Sohn verteidigend starb.

Gefangen in einem atemlosen Moment des maßlosen Zornes, stand Askr aufrecht und stark wie ein Bär. Der trauernde Vater schwang seine Axt auf das Genick der Bestie nieder, mit all der Stärke des Donnergottes selbst.

Obwohl das kolossale Monster versuchte sich von der Erde loszureißen und zu entkommen, es war zu spät. Die Schuppen der Schlange zersplitterten, als Askrs Axt sie durchschlug und Haut, Fleisch und Knochen zertrennte. Er teilte die große Schlange in zwei.

Doch es war noch nicht zu Ende. Das Fleisch des Wesens veränderte und verwandelte sich, obwohl Askr versuchte es immer wieder zu zerhacken. Der schwarze Regen stoppte in einem Zischen, als der Körper der Schlange sich unter seiner Axt in Nebel auflöste und davongleitete, um sich wieder mit den Wolken zu verbinden. Ein schriller Schrei tönte durch die Luft, höher und höher, bis er nicht mehr wahrnehmbar war. Wie von den heißen Strahlen der Sonne zerschmettert, löste der Sturm sich ins Nichts auf.

Als das Monster besiegt und der Sturm verschwunden war, brachen Askr und Embla vor Erschöpfung zusammen. Man sagt, sie schliefen dort für eine Woche auf dem verwüsteten Erdreich.

Der rothaarige Junge stand über ihnen Wache und hielt andere Überlebende fern. Er hielt an der gebrochenen Klinge seines Vaters fest, obwohl er sie nicht führen konnte und er hielt die Wache fortwährend aufrecht.

Als sie endlich erwachten, war das Paar körperlich und geistig erfrischt. Sie wussten, dass sie das Ende ihrer langen Suche erreicht hatten. Askr und Embla erschienen Jahre jünger, als wäre ihre lange Trauer wie weggewaschen.

Sie sagten dem rothaarigen Jungen, dass sie sich dort niederlassen und das Dorf wieder aufbauen würden. Wenn er es wollte, könnte er mit ihnen leben und sie würden ihm alles beibringen, was sie gelernt hatten. Doch sobald sich der Junge sicher war, dass sie sich erholt hatten, erklärte er, dass er fortgehen müsse. Durch den Tod seines Vaters, war es nun seine Aufgabe für das Wohlergehen seines Volkes zu sorgen. Als er ging, das zerbrochene Schwert hinter sich schleifend, sagte er dem Paar: „Ich bin Sigurd, Sohn des Sigmund, der unser König hätte sein sollen. Ich werde dieses Dorf in Erinnerung behalten.“

Askr und Embla lebten für unzählige Jahre und schließlich hatten sie viele weitere Kinder, um ihren Tag mit Freude zu füllen. Alle wurden mit den Zeichen des Sturms in ihrem Blut geboren und wurden gelehrt den Schmerz von anderen zu verstehen. Sie lernten ihre Kräfte zu kontrollieren, die Wut nur zu entfesseln, wenn nötig.

Doch die große Schlange hinterließ ebenfalls ihr Mal: Der kleine Kratzer an Emblas Knöchel enthielt ein dunkles Gift, dass in ihr Blut sickerte und dort verblieb. All ihre Kinder und ihre Kindeskinder erben bis zum heutigen Tag diese dunkle Seite der Raserei: Verachtung und ungezügelte Wutausbrüche, die, wie manche sagen, unsere Gabe zu einem Fluch machen. Aber solange wir Ragnarök vor uns sehen und die Lehren des Zorns hinter uns, werden wir wissen, wer wir sind.

Wir sind Aufopferung, Verlust und Schmerz. Wir sind die Wolfshäuter, die weder Klinge noch Feuer besiegen kann. Wir sind der aus der stärksten Liebe geborene Zorn. Wir sind die Úlfhéðnar, die für unseren König kämpfen, bis zum Tag der letzten Schlacht.

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