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Die Frostriesen – Teil 1

Angst. Angst und Schmerz und Dunkelheit. Dies sind die Kinder des Winters. Ich werde euch nun die Geschichte davon erzählen, wie wir als die Kinder des Winters bekannt wurden, die Frostriesen der Berggipfel. Ich werde euch nun von den drei Wintern erzählen, die unsere Welt beendeten, damit wir von Neuem beginnen konnten, mächtiger als zuvor. Ich werde euch nun vom Fimbulwinter erzählen und von der Bestie.

Die Geschichte der Jötnar beginnt so: Es gab ein kleines Dorf auf dem Gipfel eines Berges. Die Leute im Dorf führten das schwierigste und kälteste Leben von allen in diesen Bergen, sie rangen dem eisigen Boden ab, was sie zum Leben brauchten. Sie jagten und stellten Fallen für Fleisch und Felle. Auf diese Art überlebten sie am gleichen Ort, an dem ihre Väter überlebt hatten. Ihrem eigenen Fleck, hoch oben und weit entfernt von den Sorgen am Fuße der Berge.

Das Durchstoßen des Veils verursachte starke Veränderungen des Wetters. Das Leben wurde schwieriger denn je. Stürme dauerten länger an und das fahle Sonnenlicht erwärmte das Dorf kaum. Doch diese Leute waren abgehärtet. Die Kälte war Teil ihres Lebens und sie ertrugen sie. Oder zumindest die meisten im Dorf.

Nachdem der erste Veilsturm hindurchgezogen war, begannen sich die Dinge zu verändern. Die Kälte war intensiver und schien sowohl den Geist als auch den Körper zu erfüllen. Hin und wieder verschwanden Leute im tiefsten Winter. Man sagte, dass sie in ihrem Frostwahn hinaus in den Schnee gezogen waren.

In diesem Dorf lebten zwei Brüder, die eine Methalle betrieben. Ihre Mutter war vor langer Zeit gestorben und ihr Vater verfiel eines Winters dem Frostwahn und verschwand. Er hinterließ seinen Söhnen das Haus und die Methalle, aber nicht viel mehr. Die zwei steckten alles was sie hatten in das Gebäude und ihren Vorrat; und trotz der langen Winter und der Veilstürme kamen sie ziemlich gut zurecht. Ihr Lokal wurde zum großartigsten im Land, mit einem hohen Dach und dicken Mauern. Das vergoldete Gebälk im Inneren glänzte an den endlosen Abenden im Schein des Feuers, an denen ihre ausgezeichneten Getränke in Strömen flossen.

Einer der Brüder wurde Thrud genannt. Er war groß und stark, und er führte viele der Raubzüge die Hänge hinab. Er erlangte durch die Macht seiner Waffe viele Reichtümer und füllte die Truhe neben seinem Bett mit purem Gold. Thrud verbrachte den Rest seiner Zeit mit Training im Hof oder in der Methalle, wo er mit den alten Kriegern trank.

Der jüngere Bruder wurde Gest genannt, er war ein Meister der Runen und der Erschaffung von Sagen. Er reiste zu Höfen nah und fern im Land und verdiente sich auf seine eigene Art Geschenke von Königen und Schätze. Wenn er zu Hause war, dann erzählte er Geschichten und sang in der Methalle. Er brachte mit seinen Worten und seinen Runen die lärmende Menschenmenge zu nachdenklicher Stille. Trotz all seiner Fähigkeiten erhielt er nicht den gleichen Respekt wie sein Bruder.

Einige liebten es, seine Geschichten und Lieder zu hören, sie waren stolz solch einen Meister der Geschichten in ihrem Dorf zu haben. Einer von ihnen war ein kleiner Junge, der sich nach vorne lehnte und seinen Lieblingsgeschichten mit großen Augen zuhörte. Geschichten der vorzeitlichen Riesen, der alten Jötnar, die, wie Gest sagte, einst existierten. Der Junge beobachtete die Schatten der großen Berge ringsum, in der Hoffnung, einen Blick auf eine dieser mythischen Kreaturen zu erhaschen. Gest schüttelte seinen Kopf und lächelte, er weidete sich an dem Enthusiasmus des Jungen und machte weitere Geschichten der Jötnar ausfindig.

Thrud fand seinerseits bald gefallen an dem Jungen, der sich immer in der Methalle herumtrieb, und begann ihm das Kämpfen beizubringen. Er trainierte die jungen Muskeln, damit sie an Stärke zunahmen. Der Junge, der versuchte den Fußstapfen der Helden und Kreaturen zu folgen, über die er so gerne hörte, stürzte sich in Thruds Training. Doch er war zu Jung, um viel Fortschritt zu erzielen. Thrud erkannte den Eifer seines Schülers trotzdem an und fand immer ein Lächeln für den Jungen.

Eines Herbstes bedeckte ein außergewöhnlich früher Schnee die Gipfel mit einem weißen Flaum und ließ die schroffen Bruchstücke des schwarzen Gesteins sanfter erscheinen, die sich in den windgepeitschten Himmel erhoben. Die Leute im Dorf Út zuckten mit den Schultern und gingen ihrer Beschäftigung nach. Thrud kletterte über den Berg und kehrte mit einer Ladung von Holzscheite nach der anderen für das Feuer wieder, während Gest die Risse in den Mauern ihrer Methalle reparierte. Es würde so hoch in den Bergen ein furchtbarer Winter werden, aber das Dorf hatte schon zuvor Winter gesehen und überstanden. Sie mussten nur die Feuer aufrechterhalten.

Es war ein kalter Tag, die Sonne war von grauen Wolken verdeckt, die zu dicht waren, um von den starken Winden aufgelöst zu werden, die über Gipfel fegten. Ein alter Jäger kehrte kreidebleich und schwer atmend zum Dorf zurück. Er sammelte andere Jäger um sich, um einige Spuren im Schnee zu betrachten. Thrud und Gest unterbrachen ihre Vorbereitungen und gingen, um einen Blick darauf zu werfen.

Die Spuren waren klein und gewunden, ungleichmäßig und abgerundet. Das waren die Spuren von drei Kindern. Ein Schrei fegte durch das Dorf, da die Kinder aus mehreren Häusern auf dieser Seite von Út verschwunden waren.

„Sie müssen dem Frostwahn verfallen sein“, sagte der alte Jäger. Er vermutete, dass die intensive, für die Jahreszeit ungewöhnliche Kälte sie in der Nacht hinaus und fort vom Dorf getrieben hatte und dass ihre Sinne vom endlosen Schnee gedämpft oder verwirrt wurden. Es schien keine andere Erklärung zu geben. Wenn es andere Spuren gegeben hatte, dann mussten sie vom beißenden Wind versteckt oder unkenntlich gemacht worden sein.

Die Brüder erkannten, dass eines der vermissten Kinder der Junge war, der die Geschichten über Riesen liebte. Sie schlossen sich der Suche an. Tränen froren an Nasen fest, während die verzweifelten Jäger den Spuren aus dem Dorf hinaus folgten. Doch die Spuren verschwanden oder folgen einem Pfad, der sich hinauf zu den höchsten Klippen wand, wo nichts war außer schwarzem Gestein und Eis.

Die Kinder waren fort und es war gefährlich oder unmöglich ihnen zu folgen.

An diesem Abend beriet sich der alte Jäger mit den anderen alten Männern in der Methalle. Sie alle murmelten sorgenvoll miteinander und beratschlagten sich in einer Ecke der Halle. „Niemals zuvor packte so viele der Frostwahn, aber was können wir machen? Wenn der Frost dich nimmt, dann kann dem keiner widersprechen. Die Kinder wurden vom Schnee auserwählt, ein Opfer für die Götter des Winters.“

Thrud warf seinem Bruder einen Blick zu. Er stürzte seinen Becher mit Gewürzmet herunter und stand auf. „Ich werde gehen!“

Die Graubärtigen unterbrachen ihre Gespräche und schauten ihn überrascht an. „Ich werde gehen!“, sagte er erneut, seine Stimme hallte von den massiven Holzwänden wider. „Ich werde die Kinder finden und wenn da irgendetwas ist, das versucht mich aufzuhalten, dann werde ich seinen Kopf hierher zurückschleifen. Niemand vertreibt uns aus diesem Dorf. Niemand darf unser Kinder stehlen und weiterleben!“

Sein Tönen hallte durch die stark gefüllte Halle und hinterließ nur Stille. Ein paar Betrunkene kicherten. Einer mehr würde heute dem Frostwahn verfallen.

Thrud stiefelte zur Tür, nahm seinen Speer und ging hinaus. Gest lächelte und nickte den Leuten zu, die ihn und die Tür anstarrten, die er hinter seinem Bruder geschlossen hatte. „Es wird ein Tag für Gesang sein, wenn er wiederkehrt. Auf meinen Bruder Thrud!“ Als er seinen Becher erhob, musste der Rest in seinen Jubel einstimmen.

Nachdem er eine Weile mit ihnen getrunken hatte, ging Gest. Er schwankte leicht vom Jubeln und Tönen. Niemand folgte ihm.

Thrud war draußen auf der Straße. Eine graue Gestalt im Zwielicht, Gests breitschultriger Bruder lehnte auf seinem Speer und schaute zum Gipfel des Berges hinauf. Sein Atem bildete Wolken im schwächer werdenden Sonnenlicht und formte winzige Eiskristalle, die herabfielen und seinen Bart vereisten.

Ein paar Schneeflocken fielen. Gests älterer Bruder schaute ihn an, seine Augen funkelten unergründlich. „Halte die Stellung in der Halle für mich, mein kleiner Bruder. Ich werde bei Tagesanbruch aufbrechen und mit den Kindern zurückzukehren oder überhaupt nicht.“

Während des nächsten Tages wartete Gest. Er beobachtete die hohen Gipfel, doch der nächste Tag war sonnig; der weiße Schnee reflektierte das Licht in das Dorf und die Eiszapfen brachen es. Wolkenfetzen peitschten gelegentlich um den Gipfel und kündigten einen bevorstehenden Sturm an. Er konnte gerade noch an den hellen Stellen zwischen den Wolken sehen, wie der Wind einen feinen Sprühnebel aus Schnee vom Berg blies.

Als der Tag verging begann er eine Melodie auszusuchen und arbeitete an einem neuen Lied, um die Rückkehr der Kinder mit dem Frostwahn zu feiern. Als der Abend hereinbrach und es noch immer kein Zeichen seines Bruders oder der Kinder gab, biss sich Gest auf die Lippe und hörte auf sein Lied zu komponieren. Die gerissenen alten Jäger mussten Recht gehabt haben. Dort oben gibt es etwas, das nicht will, dass Reisende es wieder verlassen. Etwas so starkes oder schlaues, dass es sogar Thrud aufhalten konnte. Denn wer konnte den Frost bekämpfen?

In dieser Nacht packte er. Er nahm mehr Vorräte mit, als es Thrud getan hatte und einen zusätzlichen Mantel, falls sein Bruder einen brauchte. Vielleicht war er nur in einer Schneeverwehung gefangen und wartet auf die Ankunft seines Bruders, der ihm dabei hilft zu entkommen. Gest nahm auch ein Schwert mit, in der Hoffnung, es nicht zu brauchen.

Am nächsten Morgen stählte Gest sich für den Aufstieg. Seine Fellstiefel waren hochgezogen, seine Hosen darüber, Lederbänder hielten seinen schweren Mantel über seinen dicken Ärmeln, er war so gut er konnte vorbereitet. Es könnte ein tödlicher Aufstieg auf den gefrorenen Felsen nahe des Gipfels sein und er würde vom langen Marsch müde sein. Aber es gab keinen anderen Weg.

Er wanderte die steilen Pfade hinauf, die sein Bruder genommen hatte und wählte einen Pfad zwischen schwarzen Felsspitzen und vereisten Flächen. Er kam mit seinem schweren Gepäck, seinem warmen Mantel und seinem Schwert nur langsam voran. Der Tag verfinsterte sich schnell und Gest begann die Kälte zu fürchten. Hier oben von der Nacht gefangen zu werden, dem Wind und dem Frost der Nacht ausgeliefert, konnte selbst ohne Wahnsinn den Tod bedeuten. Er musste einen Unterschlupf finden. Und noch immer gab es kein Zeichen seines Bruders oder der Kinder im Frostwahn, auf deren Suche sich Thrud begeben hatte.

Bis er ein abgesplittertes Holzstück vom Schaft eines Speeres fand. Es lag zwischen den Felsen und den Schneeflächen, ein glatt polierter Stab mit einem scharf abgebrochenen Ende. Das war alles, was es dort gab; nicht einmal Blut bedeckte das Splitterstück, das in der Nähe zwischen den Kieselsteinen lag.

Dann fand er sie; eine dunkle Felsspalte, die sich wie ein ungleichmäßiger Mund entlang der Unterseite eines riesigen schwarzen Felsens öffnete. Sie war nicht genau wie in den Geschichten und Liedern, die er kannte; es lagen keine Knochen vor ihr und keine Blutflecken zierten die Felsen mit seltsamen Symbolen. Doch ein starker Moschusgeruch strömte aus der Felsspalte und erfüllte ihn mit unbestimmter Angst. In jedem Fall hatte er kaum eine andere Wahl, um zu überleben, da die Kälte der Nacht ihm zu Leibe rückte.

Gest streckte seinen Rücken und setze sich für einen Augenblick auf einen Stein, der aus dem Schnee und der Flut von Kieselsteinen herausragte. Er ließ seine Finger knacken und dachte nach. Während seine Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnten, würde er gegen alles, das in der Höhle lebte, verwundbar sein. Gest ließ seinen Rucksack fallen, zog sein Schwert und lehnte sich mit einer Hand ohne Handschuh gegen den Felsen. Er schloss seine Augen und zählte, während er der Versuchung widerstand, ein paar Takte eines alten Kriegsliedes zu summen, das ihm sein Großvater beigebracht hatte.

Mit noch immer geschlossenen Augen schob Gest seine Hand hinab und spürte die Unterseite des Felsens, krümmte sich zusammen, lief hinein und öffnete seine Augen in der Dunkelheit. Er stellte fest, dass sich die Höhle nahezu sofort öffnete; der riesige Felsen war hohl und voll von winzigen Tunneln. Seine Augen hatten sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt und er konnte die Spuren von anderen sehen, die hindurch gekommen waren. Und dort an der Seite war ein Stiefelabdruck im sanften Schnee, der gerade bis in den Eingang der Höhle geweht wurde. Es war der Abdruck seines Bruders Thrud, daran hatte Gest keinen Zweifel, doch er schien größer, als er ihn in Erinnerung hatte. Also warum zögern?

Gest hielt seine Klinge vor sich und drang in den dunklen Tunnel vor. Er fand sich in einer eisigen Höhle wieder, die von der Sonne erleuchtet wurde, die draußen unterging. Er konnte sie nicht sehen, aber er spürte, wie wütende Wolken am Himmel heraufzogen.

Weiter geht es im zweiten Teil.

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