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Die Brennofengeborenen – Teil 1

Das Flüstern des Windes bahnte sich durch das stille Dorf und hallte dabei durch die Straßen und Ecken. Die Gebäude bestanden aus Lehm und Stein; sie schienen braun und ausgedörrt. Hier und dort erstreckten sich inmitten der flachen Feldsteine die gelben Köpfe von Butterblumen, welche hinauf zum blauen Himmel ragten. Es lag ein angenehmer Geruch von Rauch in der Luft – so, wie es bei den Überbleibseln einer Feuerstelle, die zum Kochen genutzt wurde, der Fall ist.

Für den Mann, der auf der Hauptstraße entlangging und dabei einen grobgewebten Tornister bei sich trug, war die Leere befreiend und friedlich. Die runden Ecken und die durch die wunderschönen Gebäude geformten Straßen erinnerten ihn an Artus’ Hof, den er mitsamt seiner Bücher verlassen hatte, um die Golems aufzusuchen. Jetzt musste er nur noch herausfinden, wohin sie verschwunden waren.

Das Flüstern des Windes verstärkte sich, als er langsam durch das Dorf schritt und dabei um Ecken und in dunkle Gassen spähte. Beinahe hätte er dadurch nicht einmal das schwache Grollen, das plötzlich von einem sich verändernden Gebäude ausging, gehört.

Der Mann drehte sich um und stolperte daraufhin verblüfft nach hinten. Die Wand, welche zum Gebäude neben ihm gehörte, begann damit, sich zu verändern – sie löste sich vom Rest der Konstruktion aus Lehm. Der Geruch von Asche umhüllte ihn, als sich plötzlich zwei brennende Augen inmitten des schmelzenden, sich verändernden Lehms, öffneten. Die Augen schimmerten wie Glut während die Wand allmählich die Gestalt eines riesigen Mannes von breiter und eindrucksvoller Gestalt einnahm.

Der kleine Mann starrte völlig erstaunt und mit geöffnetem Munde nach oben, als der Golem seine gewaltige Hand erhob und sich mit massigen Fingern über ein Kinn aus Lehm strich. Kurz darauf platzte sein Mund über das riesenhafte Gesicht und spie unter tiefem Geknister, vergleichbar mit dem von brennenden Holzscheiten, schwarzen Rauch aus. Der Mann aus Artus’ Hof stockte der Atem, doch lächelte er schwach, als er realisierte, dass der Golem lachte.

“S-Seid ihr die Erzähler von Wahrheiten, die wiedergeborenen Sklaven, die großen Golems der Erde?”, stammelte der Mann sich durch seine formale Begrüßung während er zur gleichen Zeit hastig nach den Laschen seines Tornisters griff. Die enorme Gestalt beugte sich über ihn.

Die Stimme, die vom massiven Lehmgesicht des Golems ausging, war rau und klirrte wie eine über Backsteine geleerte Schaufel voll heißer Kohlen. “Vergiss nicht die Stimmlosen und Brennofengeborenen”, grollte das große Wesen. “Ich weiß von dir, Reisender. Meine Schwester trägt den Schlüssel zum Lautlosen Tor, nahe des Ortes, an dem du lebst. Du bist der Geschichtsschreiber von Artus’ großem Hof und du bist gekommen, um die Geschichte der Brennofengeborenen niederzuschreiben.”

“Ihr sprecht die Wahrheit, oh Golem”, erwiderte der Mann, während er hastig ein unbeschriebenes Buch öffnete und seine Feder in Tinte tränkte. “Werdet Ihr mir Eure Geschichte erzählen?”

“Das werde ich. Ich werde dir von unserer Mutter, der großen Maharal, erzählen, welche uns durch ihre Weisheit und ihren Mut die Stimme und Freiheit schenkte.”

Noch vor dem Zweiten Weltenbruch wurden wir in Dunkelheit und Flammen geboren. Es waren die Sprecher der Lügen, die uns schufen. Sie waren Meister der Illusion, welche etwas Wahrhaftiges erschaffen wollten – etwas, das auch noch in tausend Jahren als Monument ihrer Großartigkeit dienen würde. Sie waren geheimnisvolle Wesen, gehüllt in Rauch und Schatten und ohne Gesichter, die man wahrnehmen konnte. Trotzdem sprachen sie mit wunderschönen, wohlklingenden Stimmen. Sie stiegen aus der Dunkelheit empor und schufen ihre Stadt über einem Höhlenkomplex. Tief unten in den verworrenen Tunneln lag der Eingang zu einem rätselhaften Ort, auch bekannt als die Tiefen – der Ort, der auf schreckliche Art und Weise am Leben ist.

Sie planten ihre Schlösser und Festungen als mächtige Konstruktionen, so hoch wie der Himmel und so stark wie die Wurzeln der Erde. Letztlich überstieg diese gewaltige Aufgabe jedoch das Geflüster und die Träume der Sprecher. Selbst ihre mystische Kraft konnte ihnen beim Verwirklichen der hochtrabenden Vision vom Himmel nicht helfen. Sie begannen damit, nach einem Weg zu suchen, der ihre Träume Wirklichkeit werden lassen würde.

Zuerst versklavten sie die Leute, die sich im Umkreis ihrer Stadt befanden. Sie verpflichteten sie mit Versprechen und allerlei Fantasien, um sie daraufhin bis zu ihrem Tode arbeiten zu lassen. Die Sklaven waren nichts als Männer und Frauen – schwächliches Fleisch, das die kolossalen Gebäude der Sprecher niemals zu bauen vermochte. Ganz egal wie hart die Sprecher ihre Sklaven auch schlugen, ihre Stärke war der Aufgabe einfach nicht gewachsen. Die Sprecher bestraften sie mit dunklen Träumen und begannen damit, nach einer anderen Lösung zu suchen.

Aus den Schatten herausragend bot ihnen eine Kreatur ihre Dienste an. Sie war verschwiegen und geheimnisvoll – die Sprecher konnten nur äußerst wenig über ihre eigentliche Natur feststellen, außer, dass es sich hierbei um ein sehr, sehr starkes Wesen handelte. Man nannte es den Händler. Er bot den Sprechern an, ihnen im Austausch gegen einen Teil ihrer selbst geheime Pfade durch die Tiefen zu zeigen. Anfangs lehnten die Sprecher sein Angebot ab, denn sie wussten, dass die Kreatur sie eines Tages seinem Willen beugen würde, sollten sie sich auf sein Angebot einlassen. Trotz allem waren sie durch das, was er ihnen offenbarte, in größter Versuchung und willigten schließlich einer Erkundung der Tiefen mitsamt seiner Hilfe ein.

Schrecken und Elend lebten dort, doch gleiches galt auch für Macht – Macht, die weit hinter jedweden Erwartungen liegt. Tief unten in der Finsternis zeigte der Händler den Sprechern der Lügen den Brennofen von Ur – ein Gegenstand von großer Macht. Er erzählte ihnen mit wahnsinniger Entzückung davon, dass der Brennofen älter als jede Erinnerung war und dass die Feuer, die unter ihm brannten, Lehm mit verborgener Magie durchdringen könnte.

Begeistert von den Versprechungen des Händlers von Ruhm und Reichtum durch die Kraft der Tiefen, brachten sie den Brennofen hinauf – heraus aus der Dunkelheit. Genau wie es den Sprechern versprochen worden war, konnten sie nun Artefakte aus Lehm kreieren. Ihre Ergebnisse waren sowohl erstaunlich als auch absonderlich : Tafeln mit einer geprägten Inschrift, welche sich je nach Herz und Verstand seines Lesers bewegt und verändert sowie Amulette, welche die Sprecher noch tiefer in Wolken aus Finsternis hüllten.

Für den Händler war dies jedoch nicht genug. Er erzählte den Sprechern, dass ihre Stadt niemals erbaut werden würde, solange ihnen eine Dienerschaft, die stark genug war um fortzudauern, fehlte. Er zeigte ihnen eine tiefere, verborgenere Magie – einen verdorbenen und korrupten Gebrauch des Brennofens. Er versprach, ihnen Diener zu erschaffen, die sich ihren Meistern nicht widersetzen, geschweige denn beklagen könnten. Man rief nach dem nächstgelegenen Sklaven, welcher schon bereit stand um den Sprechern zu gehorchen. Der Händler schlitzte den Mann mit einer gekrümmten Kralle auf und stopfte sein schreiendes Opfer anschließend in einen Block aus weichem Lehm. Das Blut des Mannes vermischte sich mit der Erde und seine Stimme wurde durch das Ersticken schließlich zum Schweigen gebracht.

Mit fleischartigen Fingern, durchdrungen mit Metall, formte der Händler eine neue Gestalt. Ein riesiger Mann, geformt aus Lehm und perfekt in jeder Hinsicht – außer, dass er keinen Mund hatte; der Lehm unter seiner Nase war glatt und unversehrt. Anschließend platzierte der Händler seine Schöpfung in dem Brennofen. Als Rauch in die Nasenlöcher des Mannes aus Lehm drang, erkannte der Händler, dass das Geschöpf voll von pulsierendem Leben war : Es brannte darauf, befreit zu atmen – ganz so, wie das Neugeborene, das es war. Um ihn an den Willen seiner Meister zu fesseln, schrieb der Händler die Buchstaben für Tod auf die Stirn des Wesens. Er nutzte die dunklen Kräfte des Brennofens von Ur, um ihn zu unterwerfen. Die Illusion des Todes lag auf dem Brennofengeborenen und er verlor kein einziges Wort.

Dann, im Stillen über die großen Träume der Sprecher lachend, verschwand der Händler wieder in der endlosen Finsternis, aus der er gekommen war.

Die Sprecher der Lügen töteten daraufhin wahllos ihre Sklaven, um weitere stumme Schöpfungen zu erschaffen. Dabei stellten sie die Methode des Händlers nie in Frage – eine Alternative interessierte sie nicht. Sie erzählten ihren neuen Sklaven, sie seien niedere Wesen, geringwertige Kreaturen und Monster. Die Sprecher zeigten den Golems Illusionen vom Inneren der Tiefen. Sie fühlten sich echt an und erzählten von Blutgelagen und Opfern – sie zeigten, dass die Golems den Sprechern in der Vergangenheit ein großes Unrecht zugefügt hatten, ein blutiges Gräuel, für welches sie nun büßen mussten.

Die Golems wurden im Feuer geboren, doch in der Dunkelheit aufgezogen. Sie lebten in den Höhlen unterhalb der beträchtlichen Schlösser der Sprecher. Durch die Unkenntnis der Wahrheit und mit dem Gefühl großer Schande waren die Golems bereit, zu arbeiten. Im Austausch für die Vergebung der Sprecher erbauten sie Lagerhallen und Festungen, doch hatten die Brennofengeborenen ihre Meister nie gesehen. Auch das Licht erblickten sie nur selten; die Sprecher hielten sie in den Höhlen und folterten sie in den Tiefen. Nur nachts war es den Golems gestattet nach draußen zu gehen, wo sie inmitten von zahlreichen Reihen aus ihren schemenhaften Meistern gehalten wurden, um deren Türme unter den kalten Sternen zu erbauen.

Die Sprecher der Lügen waren gegenüber ihren brennofengeborenen Sklaven strenge Zuchtmeister. Die Arbeit war intensiv, obwohl die Golems dafür gemacht worden waren. Sie konnten Steine und Lehm so einfach wie Butter formen, doch sahen sie die mächtigen Konstruktionen, die sie errichteten, nur äußerst selten. Im Mondlicht wurden sie unter den Drohungen von entsetzlichen Visionen weiter vorangetrieben. Die Sprecher verlangten mehr und mehr – sie befahlen ihren Sklaven, die Lücken in den Wänden zu füllen und dabei sich selbst als Material zu nutzen.

Einer der Brennofengeborenen machte sich daran, am Brennofen zu arbeiten. Seine Aufgaben bestanden darin, die Flammen zu schüren und den Lehm ein- und auszubringen. Die Sprecher bezeichneten den Golem, der für den Ofen zuständig war, lediglich als “Golem-Mutter”, denn da sie nicht mehr als toter Lehm waren, wurden ihnen keine Namen gegeben.

Die Magie des Brennofen von Ur verbrannte die Golem-Mutter unter entsetzlichem Schmerz, bedrohlich genug um sie mit jedem Male, wenn sie die Kohlen aufzukehren gesuchte, beinahe beseitigt wurde. Sie war von Ruß überzogen, da ihre schleierhaften Meister sie dazu zwangen, den riesigen Brennofen zu betreten. Nacht für Nacht arrangierte sie die Golems, welche vor sich hinkochten, neu und brachte Tafeln in und aus dem Ofen. Durch die verderbende Hitze wurde ihr Körper hart und rissig.

Eines Nachts, als das Geheul der Kreaturen aus den Tiefen unterhalb der Höhlen, in denen sich der Brennofen befand, am lautesten war, fand sich die Golem-Mutter alleine wieder.
Der von Rauch umhüllte Aufseher, der sie herumkommandierte und mit schrecklichen Visionen quälte, war nicht da – er suchte anderswo in den Höhlen nach noch größerer Macht.

Der Brennofen von Ur lag in einer Höhle unterhalb eines steinernen Schlosses, welches sowohl von als auch aus den Sklaven erbaut wurde. Eine Seite des Gewölbes fiel in einen Abgrund, der in die Tiefen führte. Die Golem-Mutter blickte vorsichtig in die Dunkelheit, darauf wartend, dass jemand ihr sagen würde, was zu tun ist, doch bis auf die tosenden Flammen unterhalb des Brennofens von Ur war alles stumm. Langsam und bedächtig öffnete sie die Tür des kesselartigen Brennofens, dessen Schornsteine durch die ewig brennenden, blauen Kohlen, die unter ihm lagen, noch mehr Dunkelheit ausströmten.

Im Inneren angelangt säuberte sie einen der Golems, auf welchem sich zunehmend Asche angesammelt hatte. Der Golem lag noch immer im Schlaf, während der Rauch des Lebens über seine Nasenlöcher in ihn hineinströmte. Die Golem-Mutter ging vorsichtig auf die andere Seite des Brennofens hinüber, dort, wo Reihe für Reihe riesige Tafeln aus Lehm vor sich hinbackten – jede von ihnen mit magischen Schriften überzogen. Sie packte eine dieser Tafeln mit ihren geschwärzten Fingern und kroch danach zurück, hinaus aus dem Ofen.

In den flackernden Schatten außerhalb des Ofens angelangt, starrte die Golem-Mutter von Neuem durch den Raum. Sie blickte hinab in den Abgrund, der in die Tiefen führte und lauschte dem flüsterndem Wimmern der Kreaturen tief unten in der Finsternis. Anschließend ging sie zu einer der Seiten hinüber und schabte eine kleine Nische in die Wand – passend, um ihre Beute zu verbergen. Als sie die nur halbgebackene Tafel im inneren der Nische versteckt hatte, füllte sie das Loch wieder auf und ging wie gewohnt ihren Pflichten nach. Sie kümmerte sich um die Kohlen des Kiln von Ur.

Es dauerte nicht lang, bevor der Aufseher zurückkehrte und wieder nahe des Brennofens in seiner Wolke aus Dunkelheit schwebte. Sollte er einen Verdacht gehabt haben, so bewahrte er Stille. Er sinnierte über die Anblicke und Geräusche, denen er im Inneren der Tiefen begegnet war und schenkte der Golem-Mutter gegenüber keinerlei Aufmerksamkeit.

In der nächsten Nacht verspätete sich der Aufseher erneut. Die Golem-Mutter, geplagt von Schuldgefühlen über ihren Diebstahl, wartete so lang wie es ihr nur möglich war – doch letztlich konnte sie nicht anders, als die Tafel auszugraben und sie zu studieren. Die Markierungen ergaben keinen Sinn für sie. Die Golem-Mutter hatte keine Ahnung, dass die Magie bereits zu wirken begonnen hatte und dass die Buchstaben der Tafel sich bewegten und veränderten während sich Fragen durch ihren ermüdeten Verstand bahnten. Der halbgehärtete Lehm glühte noch immer aufgrund der Magie des Brennofens von Ur, und als sie das Objekt mit verständnisloser Faszination anblickte, wehte die Magie plötzlich wie ein Nebel nach oben und ließ sich dann in ihr nieder.

Am Tag danach stahl sie kurz vor der Ankunft der schleierhaften Gestalt des Aufsehers eine weitere Tafel. Nach und nach sammelte sie immer mehr dieser Wortmagie in sich selbst, während die Sprecher der Lügen nicht den Hauch einer Ahnung hatten. Auf irgendeine Art und Weise verflüchtigten sich allmählich die Schuldgefühle über ihren Diebstahl und sie begann damit, sich mehr um die Golems im Inneren des Ofens zu kümmern. Sie kehrte die Asche aus den Abzugsöffnungen und sorgte für eine gleich bleibende Temperatur des Ofens.

Eines Tages kamen ein paar höherrangige Mitglieder der Sprecher, um die Tafeln einzusammeln. Ihre musikalischen Stimmen erzählten vom großen Turm, den sie entwarfen, dessen mathematischen Grundlagen und auch über die Magie, die innerhalb der Tafeln enthalten war und welche diese Mysterien beschrieb. Im Weiterverlauf des Gespräches redeten sie über das Erfordernis von weiteren mundlosen Sklaven, die zum Tragen und Erbauen nötig waren. Zusätzlich erwähnten sie ihre neuen Illusionen, welche sie entwickelt hatten, um die Golems noch härter anzutreiben.

Die zwei verschleierten Gestalten wiesen die Golem-Mutter dazu an, den gebrannten Lehm hinauszubringen. Unter gefühlloser Bestimmtheit überprüften sie die großen Golems auf Risse und begutachteten die glatten, perfekt geformten Lehmtafeln, welche den Geruch von Erde und Flammen trugen. Einen der jungen Golems erachteten sie als zu ausgetrocknet und befahlen, ihn in die Tiefen zu stürzen. Schließlich schwebten die beiden Architekten davon, wobei sie ihrem Bruder keinerlei Beachtung schenkten. Der Schatten des Aufsehers flackerte vor Ärgernis, während sie beim Verlassen des Raums noch etwas über die Buchstaben betonten und dann über die Bebauung sowie die Versorgung sprachen.

Beinahe unbemerkt beobachtete die Golem-Mutter, wie sie dabei mit ihren neuesten Kindern verschwanden. Vom Feuer vervollständigt und stumm ihren Befehlen folgend. Sie kannte den bloßen Schmerz, den sie fühlten, wenn die Bilder von schrecklichem Gräuel aufs Neue in ihren Erinnerungen aufblitzte. Sie fragte sich, ob die Unterhaltung der Sprecher etwas mit den Markierungen auf den Tafeln zu tun haben könnte.

Später, im schummrig blauen Licht des Feuers, grübelte sie über ihre gestohlenen Tafeln mit angestrengter Wissbegierde. Der Golem-Mutter war klar, dass wenn sie erwischt werden würde, keiner der Sprecher auch nur damit gezögert hätte, sie ungeschehen zu machen. Man würde sie in Lehm verwandeln, welcher so leblos wäre, als ob er noch immer in der Erde läge. Ungeachtet dessen, wollte sie sprechen. Sprechen, um Geräusche wie die ihrer Geiselnehmer zu machen.

Die Kräfte der Lehmtafeln und des Brennofens, den sie befeuerte, strömte durch ihren Körper und ermöglichte es ihr, das Lesen zu erlernen. Worte entbrannten wie ein Feuer in ihrem Inneren und als ihr am nächsten Tag etwas blaue Kohle von den Zangen glitt und auf ihrem Fuß landete, schrie sie auf. Trotz der Tatsache, dass sie keinen Mund hatte und der Klang in der Tiefe ihrer Kehle gedämpft wurde, setzte sich die gesichtslose Gestalt des Aufsehers mitsamt seiner Wolke aus Rauch in Bewegung. Die Dunkelheit sammelte sich in einer Form, die den Anschein machte, sie würde sie anstarren.

Die Golem-Mutter ging jedoch lediglich ihrer Arbeit nach, ganz so, als sei nichts gewesen. Vielleicht entschied der Aufseher, dass es sich nur um einen schlecht gemachten Ziegel handelte, der durch die Hitze zersplittert war, denn es schien, als würde er bereits wieder in einen ruhenden Zustand übergehen.

Die Golem-Mutter hielt sorgsam Ausschau nach Möglichkeiten, zu üben, wenn sie allein in der Dunkelheit war. Sie konnte Geräusche machen, hatte aber keinen Mund um wirklich zu sprechen. Sie summte, während sie die Tafeln las und dabei alles über ihren Inhalt zu Linien, Winkeln, Gebäuden und Formen erlernte. Als weitere weiche Lehmtafeln und notdürftig geformte Golems in den Kiln von Ur gebracht wurden, entschied sie, sich selbst einen Namen zu geben. Sie wollte eine Identität, die sich von jenen der Sprecher unterscheiden würde. Es sollte anders sein, als die Geräusche, mit denen sich die Sprecher gegenseitig anredeten – es sollte ein Name sein, der sie als Person und nicht als Sklaven definieren würde.

Sie wählte den Namen Maharal. Sie hatte ihn stets vor sich hingesummt, während einzig das Geschrei der Schrecken aus den Tiefen als Antwort darauf zurück drang. Sie wiederholte das Geräusch – wieder und wieder – bis es ein Teil von ihr wurde. Sie war Maharal; Maharal war die Golem-Mutter.

Weiter geht es im zweiten Teil.

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