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Es verging eine lange Zeit bis die Dorfbewohner erneut diesen Druck in der Luft spürten, jenes Gewicht tödlicher Magie, welches sie niederdrückte. Die zweite Malvolenz kreischte durch den Himmel und riss mit ihrer Wut die Luft entzwei. Als sie das Dorf traf, ließ die Kraft ihres Donners Häuser auseinanderbrechen und die Steine der alten Kathedrale schrammten durch den alten Mörtel aneinander, ächzten und verschoben sich.

Die Einwohner hatten das Rennen noch nicht verlernt. Sie alle flohen in panischer Eile aus dem Dorf, nur die Eltern der Chorkinder nicht. Stattdessen rannten jene Mütter und Väter in Richtung der Kathedrale. Im Innern stand Romain, der sie mit Gesten zur Eile antrieb. Doch kurz bevor sie diesen relativen Schutz gerade erreichen sollten, schlug die entsetzliche Malvolenz zu. Der Wind traf die Straßen wie ein herabstürzender Berg.

Die Glocken im Turm sangen: “Tot, tot, tot!”, als der stürmische Wind sie läutete. Mit Tränen in den Augen schlug Romain die Tür vor dem heulenden Sturm zu. Er nahm einen tiefen Atemzug und wandte sich dann den Kindern zu, die sich im Zentrum der großen Kathedrale zusammenkauerten. Die älteren von ihnen bemühten sich nicht zu wimmern. Gesehen hatten sie nichts. Würden sie überleben, gäbe es nach dem Sturm noch genügend Zeit, ihnen zu erzählen was geschehen war. Die Kathedrale war bereits steinalt gewesen, als sich Romain vor einer Ewigkeit hier niedergelassen hatte. Sie würde sicher noch einen weiteren Angriff überstehen.

Tiefhängend waberten die Sturmwolken am Himmel und taumelten durcheinander, enorme Gebirge aus Grau und Schwarz. Wütend schleuderten sie Blitze von einer zur nächsten, wie rachsüchtige Götter. Romain beobachtete den Sturm durch das Fenster und erschauderte bei dem Anblick, wie dieser jene Stadt zerstörte, an deren Wiederaufbau er so lange Jahre gearbeitet hatte. Teile von Holz und sogar Steine stürzten durch die verdunkelten Straßen. Risse bildeten sich in der Erde und die Pflastersteine stürzten hinein, ein Fluss aus Steinen im peitschenden Regen.

Romain wandte sich vom Fenster ab und ging zu den Kindern, die sich im Zentrum der großen Kathedrale aneinander kauerten. Ein paar fragten nach ihren Müttern und Vätern, doch er beruhigte sie. Der geringe Trost, den er bieten konnte, bestand aus seiner Gegenwart und seinen sanften Worten.

Oben sahen die bewegungslosen Wächter der Kathedrale hilflos zu, wie alles zerstört wurde. Unbeeindruckt von dem auf sie einschlagenden Regen und Getöse, heulten sie heftig auf, als der Wind durch ihre Münder blies. Am meisten schmerzte sie der Donner, der das Gebäude erbeben und erzittern ließ. Unter der grollenden Kraft fing die Erde ringsum an zu bersten und auseinanderzubrechen. Der gelockerte Boden der Kathedrale zersplitterte in alle Richtungen, als das Gebäude erbebte und sich dann allmählich wieder beruhigte.

Die Gargoyles konnten spüren wie Romain im Innern die Kinder umarmte. Alarmiert durch das Ächzen der Kathedrale, drängte er sie das Steinpodium hinauf. Unter ohrenbetäubendem Krachen tat sich eine dunkle Kluft auf, die sich mittig durch die Kathedrale zog und deren Abgrund ein Junge schreiend zum Opfer fiel. Staub quoll in die Kathedrale, ein erstickender brauner Nebel der alles belegte und das Atmen erschwerte.

Der Fußboden brach auf. Als er keinen anderen Ausweg sah, schob Romain die Kinder an die Wände und flehte sie an das Mauerwerk emporzuklettern. Drängelnd und hektisch umhertastend zogen sie sich zu den Sparren und dem Wald aus steinernen Gurtbögen empor, aus denen sich der Dachstuhl der Kathedrale zusammensetzte. Als ob sie sie verfolgten, arbeiteten sich Risse die kunstvollen Wände hinauf. Der Sturm fuhr durch die oberen Fenster und zerschmetterte sie. Er pfiff durch die Risse in den Mauern und toste mit übernatürlicher Kraft durch den Raum. Der lange Wandbehang blähte sich und stieß Romain beinahe von seinem Aufstieg herab. Er riss sich los und flog im Innenraum der großen Kathedrale herum.

Verzweifelt schob Romain die Kinder nach oben und sie krochen die hohen Fenstersimse entlang, bis sie draußen waren. Die Luft war freier, doch die Mauern schwankten und lehnten sich schwindelerregend weit über den aufgerissenen Boden.

Die Kinder klammerten sich an die einzigen Stücke Stein, die sie zu fassen bekamen: die verrutschenden Statuen, die sie so viele Stunden anstelle ihrer Lektionen angestarrt hatten.

Ein kleines Mädchen ergriff jene Statue am Arm, die einst Goji gewesen war. Sie schluchzte in seine Schulter, und war augenblicklich vom wirbelnden Sturm durchnässt. Sie wurden vom Regen gepeitscht und sie kreischte auf, als ihr Haar von den Fingern des Windes verdreht und gezogen wurde.

In einem verzweifelten Versuch die Kleinen zu schützen, beugte sich Romain über sie und breitete seine Arme über ihnen aus. Rohe Magie, die wie grelle Blitze auf ihn niederfuhr, verbrannte seinen Rücken und ließ ihn aufschreien. Als die Mauern begannen, in Richtung der regendurchnässten Erde abzurutschen, rief er in den Sturm. „Hilf ihnen! Nimm mich wenn du willst, doch lass – -„

Seine Stimme wurde übertönt von einem Sturzbach aus tosendem Gestein als die gegenüberliegende Seite der Kathedrale wegbrach. Selbstlos flehte Romain seine alten Steinwächter an, die Kinder zu beschützen, doch ungehört verhallten seine Worte vor seinen Kathedralenmaskottchen. Das Blut strömte aus den offenen Wunden auf seinem Rücken und als ein übernatürlicher Donner auf ihn niederfuhr, trat es direkt aus seinen Poren.

Vom Regen verspritzt, sammelte sich sein Blut in den Ecken und Rissen der Steine auf dem zerstörten Dach seiner geliebten Kathedrale. Es spritzte auf die erstarrte Gestalt Gojis, im Schein der Blitze blutrot, während das kleine Mädchen immer noch an seiner steinernen Schulter weinte.

Als der Sturm seinen Höhepunkt erreichte, zerriss er die Steine innerhalb der Wand und Steinsplitter flogen umher. Romain verharrte jedoch mit letzter Kraft in seiner Position und schützte sie alle. Er konnte es nicht sehen, doch sein Blut verschwand von den Gargoyles – es wurde nicht weggewaschen, sondern sickerte hinein.

Romains Augen schlossen sich als das Leben aus seinem Körper strömte und so sah er nie wie Goji sich bewegte. Jedoch konnte er den klaren hohen Ton hören, der den Donner und den heulenden Regen wie ein Sonnenstrahl durchdrang. Goji hatte zu singen begonnen.

Die anderen Statuen blinzelten eine nach der anderen mit ihren steinernen Augen, öffneten ihre Münder und stimmten mit ein. Sie sangen von den Dingen, die sie gesehen hatten, von den Freuden und Leiden, die sie so lange beobachtet hatten. Sie sangen vom Horizont, welchen sie so lieben gelernt hatten. Sie sangen das Lied der Welt und hielten die winzigen Kinder fest im Arm, während sie sich von ihren angestammten Plätzen erhoben.

Romain seufzte erleichtert, ließ seine Arme jedoch nicht herabsinken. Während seine Adern sich endgültig leerten, wurde der Mann zu regennassem Stein

Ihr donner-durchdringendes Lied schien die Mauern der Kathedrale gerade lange genug aufrecht zu halten, damit die Gargoyles, die je eines der Kinder um ihren Hals geschlungen hatten, hinabklettern konnten. Wie sie das uralte Gebäude verließen, stürzte es fast vollständig zusammen, während der Sturm triumphierend heulte. Lediglich ein einzelnes Stück Mauerwerk, auf dem ein steinerner Mann in beschützender Haltung emporragte, blieb stehen.

Sie behaupteten sich gegen den zügig nachlassenden Sturm und schritten voran. Als güldenes Tageslicht sie fand, wanderten und sangen und trugen die Gargoyles noch immer die Kinder, welche sie gerettet hatten.

Sie fanden die Bewohner, die geflohen waren. Einige der Kinder wurden wieder mit ihren Eltern, die irgendwie überlebt hatten, vereint und andere wiederum weinten still, denn der Sturm hatte viele Leben genommen. Goji ließ seinen Gesang schließlich ausklingen und wandte sich dem Vater des kleinen Mädchens zu, dessen Leben er gerettet hatte und das dieser nun fest an sich drückte.

Noch immer klar und melodisch, hatte seine Stimme nun einen melancholischen Einschlag, der davon zeugte, wie viele Jahre er die Geschehnisse seiner Welt beobachtet hatte. „Geh nun zurück in deinen Ort, Freund. Baue ihn wieder auf, singe deine Tochter jede Nacht in den Schlaf.” Gerade wollte er sich umdrehen und gehen – denn die anderen Gargoyles sehnten sich danach, der anbrechenden Morgendämmerung entgegenzuziehen – da zögerte er und fügte mit einem Lächeln hinzu: “Vergesst nicht die Statue des Mannes, welche in den Ruinen der alten Kathedrale ruht, neben die Tür der Neuen zu setzen. Er wird sicherlich so über sie wachen, wie er es immer getan hat.”

Verblüfft nickten der Vater und die anderen nahen Bewohner, während sie beobachteten, wie diese seltsam vertrauten Kreaturen zu neuen Landen und neuen Versen ihres endlosen Liedes aufbrachen.

Der Alte ließ die letzte Strophe mit einem Seufzer der Zufriedenheit verklingen. Selten hatte er ein so andächtiges Publikum. Die jüngeren Gargoyles drängten sich zusammen und ihre Köpfe wippten zum Rhythmus seiner Geschichte. „Nun es sieht so aus als sei das Schlimmste des Sturms vorüber, meine Kleinen. Bald ist es Zeit weiterzuziehen.“ Seine Haut schabte an der Bank als er aufstand und sich streckte. Die anderen Gargoyles blinzelten überrascht, als sie erkannten, dass der Regen nicht mehr gegen das alte Dach prasselte und das Mondlicht still durch die Fenster schien. Erfreut eilten sie zu Tür und in die Nacht hinaus. Gemächlich folgten die älteren Gargoyles.

Wieder kehrte sein rissiges Lächeln in sein Gesicht zurück, als er sah wie der letzte und jüngste Gargoyle an der Tür der alten Ruine innehielt. Der Bursche brachte die kleine, umgehängte Harfe zum Verstummen und fasste mit großen Augen nach dem Fels, der neben dem Torbogen stand. Der alte Felsbrocken war über unzählige Jahre verwittert, vom Wetter gezeichnet und durch lange Tage ausgeblichen. Er glich jedoch noch immer einem Manne, dessen Arme zu einer Geste verzweifelten Schutzes ausgebreitet waren.

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