Page 1 / 1

Die Bewahrer

Es war die Zeit der Schattenwonne – die finsterste Stunde der Nacht.

Kein Mond war zu sehen, es war dunkel wie ein Geheimnis in der Ansammlung Steine, die den heiligen Kreis des Eagla Portach, des Adlermoors, bildeten, an dem sich die Bewahrer, auch als Fir Bog bekannt, versammelten.

Sie fühlten den Ruf in sich aufsteigen, von den Füßen hoch bis in die letzten Adern, ein Gefühl der Gefahr, das ihnen die zarten Pflanzenteile überall im Moor vermittelten. Sie fühlten auch den Mond aufgehen, strahlend in hellem Blau.

Es war ein Zeichen, wie es in einem Jahrzehnt nicht vorgekommen war. Als sie im Kreis versammelt standen, dem Ruf des Moors folgend, trafen sich ihrer aller Augen über die Dunkelheit hinweg und sie nickten sich verstehend zu. Nervös von einem Bein aufs andere tretend, waren sich die Ältesten einig, dass dieser Mond eine große Katastrophe für das Reich voraussagte.

Die Ältesten atmeten gleichzeitig tief durch, dann gruben sich ihre Füße tief in den Sumpf. Ihre Geister griffen langsam und weit nach Außen, wie die Wurzeln der Pflanzen, zögerlich zuerst, dann sich einander umwindend und verbindend zu einem gemeinsamen Bewusstsein. Ihre gemeinsam geteilten Erinnerungen reichten tief in die Vergangenheit hinab, während der Mond, blau wie ein Vergissmeinnicht, über Ihre Köpfe stieg.

Der Kreis der Fir Bog erinnerte sich, erinnerte sich an das letzte Mal, als der Mond vor zehn Jahren aufstieg und ein übler Krieg das Land überzog und das Reich beinahe bis hinab zu den Wurzeln vernichtete. Sie erinnerten sich auch an den Aufstieg des blauen Mondes davor, als der große Veilsturm, die Bösartigkeit, Eagla Portach selbst bedrohte. Sie erinnerten sich auch den blauen Mond, dessen Vorzeichen sie falsch interpretiert hatten, der einen Wechsel aber keine Katastrophe brachte. Es würde schwierig werden, den Hochkönig diesmal zu überzeugen ihrer Warnung zu lauschen, wo sie damals so falsch lagen. Egal, ein Bote musste zu ihm gesandt werden. Es war die hohe Pflicht der Ältesten der Fir Bog, die Zeichen der Zukunft zu deuten und den Hochkönig zu warnen, wenn dem Reich Gefahr drohte!

Um die Zeichen dieses Mondes korrekt zu verstehen, so wussten die Ältesten, mussten sie ihre Geister viel tiefer in die Vergangenheit versenken, bis hin zu dem Zeitpunkt, der die Geburt ihrer Rasse darstellte. Die FirBog erinnerten sich ihres Vorfahren, eines Menschenmannes. Er lebte in einem Haus aus grauem Stein, das über die grünen Hügel wachte, weit weg vom Sumpf. In ihren Gedanken durchwanderten sie die Gänge und Hallen, wie alte Bekannte, vorbei an alten Fallgittern und über die Zugbrücke, die im Schlamm ruhte, und nahmen Kurs auf den Sumpf, so wie Eochaid mac Eirc es so viele Jahre zuvor getan hatte. Einmal mehr wurden sie zu ihm…

Eochaid war verunsichert. Niemand sonst in Hochkönig Rindals Rat schien interessiert, das Reich neu aufzubauen, das beim Ersten Weltenbruch verwüstet worden war. Sie würden lieber weiter diskutieren und sich gelegentlich schlagen, wenn eine echte oder vermeintliche Beleidigung zu rächen war. Eochaid mochte eine gute Rauferei ebenso zu schätzen, wie seine Kollegen, und würde in vielen auch gut bestehen, doch dies waren keine ordentlichen Schlagabtausche. Es waren nur Versuche, andere mit Gewalt von der eigenen Meinung zu überzeugen und er hatte ein schlechtes Gefühl, was den Rat des Hochkönigs anging.

Eines Herbsttages, als der Himmel von dicken Wolken verdunkelt war und eine unbestimmte Schwere in der Luft hing, kam Eochaid nach Hause, wo eine Nachricht auf ihn wartete. Geschrieben auf dem bleichen Papier, das der Rat für seine Botschaften verwendete, befahl es Eochaid sein Schwert vom Kreis des Rates aufzunehmen und das Schloss für immer zu verlassen. Der rau geschriebene Brief informierte ihn weiter in aller Grausamkeit, welche Schrecken warteten, wenn er nicht gehorchte. Seine Tochter würde vergewaltigt und ermordet, seine Frau ausgepeitscht und im Fluss ertränkt und seine Beine solange abgebrannt, bis er selbst so klein wie ein Luchorpán sei.

Sobald Eochaid seiner Frau Teia den schrecklichen Brief gezeigt hatte, zog sie ihre Wurfmesser. Sie wollte kämpfen, gegen jedes einzelne Ratsmitglied, bis sie den Autor des Briefes fand. Eochaid wurde von ihren wirbelnden Klingen fast zerschnitten, als er sie davon zu überzeugen versuchte, Ihr Heil in der Flucht zu suchen. „Du bist ein Feigling, willst dich wie eine Ratte verstecken!“ schrie sie ihn an, während sie mit den Messern vor ihm herumfuchtelte.

Ängstlich und unsicher strich sich Eochain mit den Fingern durchs Haar. „Unsere Feinde im Rat sind mächtig, Teia“, sagte er. „Und durch Obdgens brutale Gewalt werden sie noch mächtiger. Ich sehe, was auf uns alle zukommt. Ich höre die Schritte des Todes vor der Tür. Ich weiß ja, du kannst dich selbst verteidigen“, wobei er auf die Klingen vor seinem Gesicht schielte. „Aber wir können die kleine Tiu nicht für immer beschützen. Sie soll frei und glücklich aufwachsen, nicht gefangen hinter Wänden – diese Art Sicherheit wünsche ich ihr nicht. Davon abgesehen bin ich es müde, mich der Narren im Rat zu erwehren, die mir die Krone aufsetzen wollen. Wir beide haben zusammen im Móin Alúine gejagt und kennen die geheimen Wege dort. Lass uns dorthin aufbrechen, zum Moor von Allen, und ein neues Leben beginnen.“

Teia starrte ihn an, Tränen begannen in ihren Augen zu glitzern: „Ich weiß, du hast Recht Eochaid. Ich würde sie lieber so weit aufschlitzen, dass ihre Geheimnisse ans Licht kommen. Aber für Tius Zukunft werden wir tun, was du vorschlägst. Wir werden in Sicherheit sein. Aber schwöre mir, Eochain, für jetzt und alle Zukunft: Wenn einer von uns jemals erfährt, wer den Brief geschickt hat und die Chance hat, ihn zu töten, tut es! Ohne Rücksicht auf die Folgen! Schwöre dies bei deiner Liebe zu mir!“

„So schwöre ich!“

Teia biss sich auf die Lippe: „Schwöre es bei deinem und meinem Herzen, mögen sie erzittern und zerbrechen, solltest du je den Schwur brechen.“

Eochain nickte, aber er sprach nicht aus, was er im Herzen wusste: Obdgen steckte hinter diesen Drohungen. Und eines Tages, wenn seine Familie in Sicherheit war, würde er seinen Eid gegenüber Teia erfüllen.

Wie alles nach dem Ersten Weltenbruch, war die Natur im Móine Alúine stark verändert und es war einer der meistheimgesuchten und mysteriösesten Orte im Reich geworden. Der Wald, der den Sumpf umgab, war nahezu undurchdringlich und fremdartige Nebel, erfüllt von Stimmen, waberten in den Niederungen. Doch trotz alledem fühlten sich Eochain und Teia hier wie zuhause, sicher und verborgen vor dem Rat des Hochkönigs.

Sie bauten ein Haus aus herabgefallenem Holz und Torfplatten, alles zusammengehalten von Efeuranken. Hier ließen sie sich nieder und bildeten ihre Tochter als ein Kind der Wälder und Kriegerin aus. Tiu wurde so wild wie furchtlos und obwohl sie ohne den Argwohn eines Städters aufwuchs, war sie das warmherzigste und sanfteste Wesen im ganzen Wald.

Als Tiu ihren Eltern erzählte, sie habe neue Freunde in den Tiefen des Sumpfes gefunden, lächelten diese über die eingebildeten Freunde und bestärkten ihre Tochter darin, die Magie dieser Wesen zu lernen. Tiu brachte immer wieder kleine Mitbringsel mit von diesen Ausflügen, wie zum Beispiel Holzamulette aus Kernholz oder Blumengirlanden, die ewig frisch blieben. Eochain und Teia dachten nicht darüber nach, sondern nahmen einfach an, Tiu hätte diese Dinge selbst gemacht und hängten es deshalb als Glücksbringer über ihre Tür.

Des Sumpfes starke Magie beschützte sie vor den schlimmsten Auswüchsen der Veilstürme und die kleine Familie lebte sicher und glücklich – für viele Jahre.

An einem Herbstnachmittag hingen schließlich tiefe Wolken am Himmel und kündigten einen Veilsturm mit epischem Ausmaße an. Es lag ein Hauch von Winterkälte in der Luft und Eochaid und Teia saßen drinnen am warmen Feuer. Teia strickte in dem sichtbar gebrauchten Lehnstuhl, während Eochaid ihre Messer schärfte. Das Knacken des Feuers und das quirlen der Schleifsteine waren die einzigen Geräusche, als die Beiden durch das Fenster sahen, wie einer der Monde über dem Nebel des Sumpfes aufstieg.

Merkwürdigerweise war der Mond blau, so blau, wie die Wildblumen, die zur Frühlingszeit im Sumpf blühten. Das war nicht annähernd eines der merkwürdigsten Ereignisse im Zuge eines Veilsturms, doch das blaue Licht, das sich über dem Móine Alúine verteilte, schien Veränderung zu verkünden, das Entstehen einer Krise. Eochaid blickte zu seiner Frau hinüber, die sich mit ihrem Strickzeug dem Feuer zugewandt hatte und nickte, womit sie Beide einander zustimmten, dass es an der Zeit war, für Tiu ins Haus zu kommen. Eochaid stand auf und streckte sich und war kurz davor nach ihr zu rufen, als er unterbrochen wurde.

Ein lautes, entschiedenes Klopfen an der Tür ertönte und brach die Stille, die üblicherweise vor einem Sturm aufkam. Eochaid und Teia sahen einander an. Dies wäre nicht das erste Mal, dass ein Reisender ihr Heim im Sumpf aufsuchte, um während eines Veilsturms Schutz zu finden. Eochaid steckte trotzdem eines von Teias Messern in seine Tasche, bevor er zur Tür ging.

Vor der Tür standen drei große Männer in der Rüstung und der Tracht des Hochkönigs. Ihr breites Grinsen schimmerte im Mondlicht bläulich. Eochaid erwiderte das Lächeln und riss die Tür auf, womit er die Amulette und Blumen, die daran hingen, zum Schwingen brachte.

Bevor er sie begrüßen konnte, zogen die Männer ihre blanken Schwerter hinter dem Rücken hervor und ohne eine Chance dazu, das Messer aus der Tasche zu ziehen oder aufzuschreien, wurde Eochaid bereits mit der Parierstange ins Gesicht geschlagen und die Männer stürmten ins Haus.

Einer von ihnen packte Teia von hinten an ihren Haaren und schlug ihren Kopf gegen das Tischende. Eochaid schaffte es würgend noch ihren Namen zu sagen, bevor ihn die anderen beiden, kräftigen Soldaten an den Schultern packten und gegen die Steinwand über der Feuerstelle drückten. Eochaid schnaufte nach Luft und trat um sich, als er die Flammen an seinen Beinen spürte. Der Geruch von versengtem Fleisch verbreitete sich im Raum.

„Teia, geht es dir gut?“, hustete Eochaid, doch das Bündel am Boden gab keine Antwort von sich.

„Wer seid ihr?“, fragte er. „Wieso habt ihr diese fürchterliche Tat begangen?“

Die Männer antworteten lediglich mit einem barbarischen Grinsen.

Ein leichtes Klirren verriet, dass sich noch jemand anderes der Tür genähert hatte. Eochaid hatte vor Wut Tränen in den Augen und sah, wie eine bekannte Person in der Tür stand und vom blauen Vollmond angestrahlt wurde. Auch er trug die Tracht des Hochkönigs, doch sein Tabard war überzogen mit einem glitzernden Faden, der aussah, wie aus Gold.

„Bastard“, rief Eochaid, als sich das bekannte Gesicht im Schein des Feuers offenbarte. Obdgen hatte sich einen Bart wachsen lassen und verdeckte so sein skrupelloses Grinsen im Schatten, als er Eochaid in die Augen sah. „Ich werde dich dafür töten! Und sollte meine Teia tot sein, verspreche ich dir, dass dein Tod nicht so schnell sein wird!“, fuhr Eochaid fort.

„Sehr mutig“, lachte Obdgen hinter seinem Bart. „Doch ich hätte auch nichts anderes von dir erwartet.“

„Lass mich frei und ich werde dich trotzdem töten“, erwiderte Eochaid, „Doch ich weiß, dass du dafür zu feige bist.“

„Eigentlich bist du hier der Feigling“, antwortete Obdgen. „Du wurdest nicht mit einem starken Willen, wie ich, gesegnet und jetzt wirst du herausfinden, was dich das kosten wird.“ Mit diesen Worten setzte sich der große Mann ans Feuer und wärmte seine Hände neben Eochaids Beinen. Es schien, als würde er den Geruch von versengtem Fleisch im Raum genießen.

„Nun,“ sagte Obdgen, als er sich zurücklehnte, „ich habe dir ein Angebot zu machen. Ich kämpfe mit Freude gegen dich, doch ich warne dich, Eochaid, du wirst einen furchtbaren Preis dafür bezahlen. Oder du erfüllst eine simple Aufgabe für mich und ich werde dich und deine Familie unversehrt freilassen. Vielleicht überleben auf diese Weise sogar alle.“

„Was für eine Aufgabe ist das?“, fragte Eochaid zähneknirschend.

„Du kommst mit mir zurück zur Stadt, schwörst dem Hochkönig deine Treue und gestehst deine Verbrechen.“ Obdgens Augen glitzerten, als er mitansah, wie Eochaids Beine aufgrund der Hitze des Feuers zuckten.

„Verbrechen? Welche Verbrechen?“, rief Eochaid, „Ich habe nichts getan! Selbst in der Stadt, war ich das einzige Mitglied des Rates mit einem Funken von Anstand.“

„Anstand?“, sagte Obdgen. „Schande über dich. Du vergisst all die Duelle, die du dir mit den Ratsmitgliedern geliefert hast, deine Drohungen gegenüber dem Hochkönig, deine Bestechungsgelder und am schändlichsten von allen, das unnatürliche Verhältnis mit deiner Tochter. Armes Kind. Wir sollten am besten schnellstmöglich in die Stadt zurückkehren, damit du den Gerüchten ein Ende bereiten kannst.“

„Ich habe noch immer Freunde im Rat. Ist Rindal immer noch Hochkönig?“, fragte Eochaid.
„Er wird sich ganz bestimmt an mich erinnern!“

„Tja,“ sagte Obdgen, „Rindal wurde für verrückt erklärt und musste abdanken. Ich bin jetzt Hochkönig. Diese Männer gehören zu meinen wichtigsten Leuten, wenn du verstehst.“ Er grinste, wie der Sieger einer großen Schlacht.

Einen Moment lang starrte Eochaid einfach nur Teias regungslosen Körper am Boden an. Sie bewegte sich überhaupt nicht. Er erinnerte sich daran, was er ihr geschworen hatte, während sein Herz heftig schlug. Tiu war immer noch irgendwo dort draußen.

„Ich werde dir niemals die Treue schwören“, erklärte Eochaid. „Lass mich frei und wir werden es zwischen uns klären“.

„Bist du wirklich gewillt den Preis zu zahlen?“, grinste Obdgen noch viel breiter.

„Jeden Preis, du Bastard“, sagte Eochaid langsam, während der Knoten in seiner Brust immer enger wurde. „Lass es uns hinter uns bringen, damit ich mich um Teia kümmern kann.“

„Gut, ich würde dich auch viel lieber duellieren“, grunzte der Hochkönig. Er nickte dem Mann zu, der Teia verletzt hatte, und der Rohling verließ den Raum. Obdgen nickte auch den anderen zu und sie ließen Eochaid frei.

Eochaid rieb sich die Beine an der Stelle, an der das Feuer ihn verbrannt hatte, und stand schließlich aufrecht vor Obdgen, während er zu ihm aufsah. „Lass mich nach meiner Frau sehen. Ich nehme mein Schwert und treffe dich draußen.“

„Du darfst dich kurz um sie kümmern, doch du bekommst kein Schwert,“ sagte der Hochkönig, „Wie ich sagte, du wirst den Preis dafür zahlen.“

„Du bist wirklich ein feiger Bastard, nicht wahr?“, sagte Eochaid und spürte, wie sein Herz hinunterrutschte. Es fühlte sich an, wie ein Stück Holz in seiner Brust.

„Ein Bastard, aber nicht so ein Feigling, wie du“, schmunzelte Obdgen durch seinen Bart. „Wer von uns war zu feige, die Krone zu ergreifen, als sie angeboten wurde?“

Humpelnd beugte sich Eochaid über Teia. Er seufzte vor Erleichterung, als er bemerkte, dass sie noch atmete, auch wenn sie eine riesige Beule davontragen würde. Er strich ihr goldbraunes Haar zu Seite und küsste sie auf die Stirn. Es war an der Zeit seinen Schwur zu erfüllen.

Ein warnendes Grunzen von einem der Soldaten hielt ihn davon ab, sein Schwert von der Wand zu nehmen. Widerwillig begab sich Eochaid nach draußen, wo es gerade angefangen hatte leicht zu regnen. Alles glitzerte bläulich im Mondlicht: Die Wolken am Himmel, die nasse Erde, die Augen und Zähne der skrupellosen Wachen und der dicke Kettenmantel, den der Hochkönig passend zu seinem Zweihandschwert trug.

Eochaid spürte erneut den Knoten, der vor Wut kurz davor war seine Brust zu zerreißen. Dies würde kein fairer Kampf werden. Seine größte Chance war das geringere Gewicht und die überlegene Beinarbeit. Vielleicht könnte er um Obdgen herumtänzeln und seinen Schlägen ausweichen, bis dieser müde würde. Eochaid klopfte auf die Tasche, in der er das Messer gesteckt hatte; nur ein Schnitt und Teias Schwur würde mit einem ihrer eigenen Messer erfüllt werden.

„Ich weiß, dass du Angst hast“, unterbrach Obdgen Eochaids Gedanken und zeigte mit seiner bläulichen Klinge auf ihn. „Denke nicht, dass du vor mir davonrennen könntest, so wie du davongelaufen bist und dich hier im Wald versteckt hast. Wenn du versuchst mich mit deinen feigen Tricks zu zermürben, wird es dich mehr kosten, als du dir vorstellen kannst.“

Eochaid blinzelte aufgrund des Regens, der über sein Gesicht lief, und starrte seinen Gegenüber an.

„Keine Antwort? Ich wusste, dass du zu feige wärest, um dich mit mir auseinanderzusetzen. Deshalb habe ich eine weitere Überraschung für dich“, Obdgen schüttelte das Wasser von seinem Bart und grinste, „Wo ist deine entzückende Tochter an diesem Abend?“

Eochaids wutentbranntes Herz war erfüllt voller Angst, „Was hast du ihr angetan?“

„Ich? Gar nichts. Mein loyaler Freund hingegen hat einen sehr kranken Humor. Er ist dabei, sie im tiefsten Wasser des Sumpfes zu ertränken. Ich hoffe sie ist noch ganz….doch ich könnte es ihm nicht verübeln, wenn er ‘ihren süßen Honig’ kosten würde.“

„Du wirst dafür noch heute Nacht sterben und ich werde meine Tochter retten. Das schwöre ich bei den alten Göttern und den Stürmen“, sagte Eochaid, während sein Atem in der kalten Luft dampfte, als er sich Obdgen näherte.

„Dann solltest du dich lieber beeilen, Eochaid“, sagte Obdgen, als er sein massives Schwert feste griff, „Je länger es dauert, mich zu töten, desto tiefer versinkt sie im Dreck. Erst Recht mit dem zusätzlichen Gewicht, das sie trägt.“

„Was meinst du damit?“, spie Eochaid und rutschte näher heran.

„Als wir das Mädchen fanden, tanzten einige Kreaturen mit ihr umher. Wir erschlugen sie und fesselten die Leichen an Tius Beinen. Wie du, hofft sie wahrscheinlich bereits, dass sie sich nicht so viele kleine Freunde gemacht hätte“, spottete der Hochkönig.

Bevor Obdgen zu Ende sprechen konnte, stürmte Eochaid, wie ein wütender Eber auf ihn zu. Der geübte Kämpfer schien diesen Angriff jedoch erwartet zu haben und wich zur Seite aus. Als Eochaid an ihm vorbeistürmte, verpasste der König ihm einen Schlag über die Brust.

Die Gefolgsleute des Königs lachten und Obdgen schmunzelte aufgrund seines wohlausgeführten Manövers. Eochaid hustete, und versuchte seine Gedanken zu sortieren, während er sich von dem Schlag erholte. Der Schmerz der Wunde war nichts im Vergleich zu dem Hass in seiner Brust, der sein Herz zusammenschnürte. Als der Sturm über ihnen ertönte, wandte Eochaid sich Obdgen zu und brüllte. Es war ein kehliges Geräusch, mehr wie das Brüllen eines verwundeten Biests und nicht das eines Mannes.

Obdgen lachte nur erneut auf. Der Regen wurde dichter und hatte Eochaids Blut schon nahezu abgewaschen. Das blaue Glühen erhellte immer noch die ganze Lichtung.

„Du hattest niemals eine Chance, Eochaid. Mit oder ohne Waffe, im Regen oder im Trockenen, ich bin mächtiger, als du. Knie nieder und gib es zu!“, Obdgens Kettenmantel quietschte, als er seine Klinge erneut senkte und direkt auf Eochaids verwundete Brust zeigte. „Gib jetzt auf und ich werde einen meiner Leute losschicken, um zu sehen, ob deine Tochter noch am Leben ist. Wir werden uns um sie kümmern. Nach ein paar Nächten mit uns, werde ich sie freilassen und ihr eine Goldmünze als Dank überlassen.“

Eochaid hielt sich seinen blutenden Magen und starrte Obdgen in die Augen. So abscheulich das Angebot auch war, Eochaid wusste, dass er keine andere Möglichkeit hatte. Er fiel vor dem Hochkönig auf die Knie.

„Du ergibst dich also, so wie du es du es schon immer getan hast“, sagte der Hochkönig, „Nun, ich bin ein Mann der zu seinem Wort steht, also…“. Er dreht sich um, um einen Befehl zu erteilen, doch nach einen Lichtblitz sah er, dass die Lichtung leer war. Seine Männer waren im Veilsturm verschwunden. Obdgen lehnte sich nach vorne und spähte durch den Regen.

Als hätte er es erwartet, drückte sich Eochaid vom schlammigen Boden hoch und zog mit einer gewandten Bewegung das Messer aus seiner Tasche. Er sprang stechend und schlagend in die Luft und auf den Hochkönig zu. Die scharfe Kante schlitzte Obdgens Mund bis zu seinem Ohr auf und ließ das Blut spritzen.

Mit einem gegurtelten Schrei vor Schmerz und Überraschung drückte Obdgen Eochaid von sich weg und warf den leichteren Mann zu Boden. Obdgens angsterfüllter Blick erwärmte Eochaids Herz, als der Hochkönig versuchte, mit seinen in Kettenhandschuhen verpackten Händen die Blutung zu stillen. Einen Moment lang trafen sich ihre Augen voller Schmerz und Wut. Dann, ohne ein Wort von sich zu geben, drehte sich Obdgen um und rannte in den Wald.

Eochaid richtete sich voller Schmerzen wieder auf, in der Absicht dem Mann hinterherzujagen und ihm die Kehle durchzuschneiden. Doch er zögerte, denn er war hin und hergerissen zwischen seinem Schwur und seiner Frau und Tochter. Der Knoten voller Hass in seiner Brust zog sich mehr und mehr zusammen, als er vor Frustration aufschrie. Er wusste, was er zu tun hatte. Nach einem kurzen Augenblick wandte Eochaid sich dem Sumpf zu, um Tiu zu retten. Er hielt sich die immer noch blutende Wunde und kletterte schwerfällig im Sturm über Wurzeln und Moos.

Das Móin Alúine versteckte viele Geheimnisse und nicht alles, was dort lebte, war einem freundlich gesinnt. Als der Sturm jedoch einen Höhepunkt erreichte, verkrochen sich alle Kreaturen in ihre tiefsten Verstecke. Eochaid wurde in Ruhe gelassen, als er von Hügel zu Hügel sprang und im blauen Licht die Spuren der Königswachen verfolgte. Seine eigenen Füße waren durch Steine und abgefallene Äste zerkratzt und mit Schnitten versehen, doch Eochaid schenkte dem keine Aufmerksamkeit und eilte vorwärts, schneller als er jemals zuvor durch das Moor von Allen gereist war.

Er erreichte den Ort, an dem sich ein schwarzes Gewässer sammelte, eine tiefe Grube, zugehangen von verdorbenen Bäumen und langen Ranken. An einigen Stellen blühten Blumen hell in der Dunkelheit und es gab alte Baumstümpfe, die mit Moos überzogen waren und den rundlichen Schultern alter Männer ähnelten. Es gab Anzeichen eines Gemetzels: geknickte Äste und zertrampelte Blumen im Schlamm, abgetrennte Finger in den Pfützen und es lag sogar ein merkwürdig aussehendes Ohr auf dem Boden.

Eochaid atmete tief ein. Seine Brust brannte aufgrund der Wunde und dem Schwur, den er geleistet hatte. Schließlich tauchte er hinab ins Wasser.

Schaum klebte an Eochaid, während er tauchte und in dem pechschwarzen Wasser drosch er verzweifelt um sich, in der Hoffnung Tui zu finden. Nachdem er auftauchen musste, um Luft zu holen, begab er sich gleich wieder hinab in die Tiefen, ohne Rücksicht auf seine eigene Wunde. Jedes mal versagten seine Lungen, bevor er etwas finden konnte.

Der Sturm brüllte um ihn herum und während Eochaid spürte, wie diese Bösartigkeit ihren Höhepunkt erreichte und er selbst die Kraft verlor, flehte er verzweifelt den Himmel an. Er würgte aufgrund des Regens, Sumpfwassers und des Blutes in seinem Mund, doch er legte einen neuen Schwur ab, einen Schwur der Verzweiflung. Die Magie des Sturmes schlug ihm durchs Gesicht, als er den Gedanken an Rache aufgab, ja selbst den Gedanken ans Überleben; er wollte nur noch eines, seine Tochter, Tiu, retten.

Eochaid holte noch ein letztes Mal Luft und tauchte erneut hinab. In diesem Moment erreichte der blaue Mond seinen Zenit am Himmel und die Bösartigkeit schauderte, wie ein lebendiges Wesen.

Anstatt schwächer zu werden, die Luft und all seine Kraft zu verlieren, bemerkte Eochaid, dass er tiefer als zuvor tauchte. Je tiefer er sich vorwagte, desto kräftiger fühlte er sich. Er dachte selbst, dass er den Schmerz einfach nicht mehr wahrnahm, doch in Wirklichkeit veränderte er sich.

Die Schlacken des Tümpels, die an seiner Haut klebten, wurden zu seiner Haut, seine verbrannten Beine wurden länger und stärker, wie gehärtetes Holz; und seine Arme verlängerten sich, wie Äste. Auch seine Augen veränderten sich und nach einem Blinzeln konnte Eochaid plötzlich in dem trüben Wasser sehen. Er erblickte seine Tochter tief am Boden der Grube, sie schwamm oben, doch sie war an Steinen und winzigen, zerfleischten Leichen festgebunden. Eochaid konnte die Fesseln, die sie unten hielten, nicht durchtrennen. Er musste sie nach oben tragen und wurde größer und stärker, bis er aus dem Wasser ragte.

Er hielt Tiu in seinen riesigen, knorrigen Händen und legte sie ans Ufer. Er war erfüllt von Terror und Hoffnung, denn für ihn gab es nur eines; ihre Sanftmut und Fröhlichkeit musste der Welt erhalten bleiben. Die Leichen, die an sie gebunden waren, waren Luchorpán, die man in Stücke geschnitten hatte und für die es keine Rettung mehr gab.

Der Moment zog sich, wie eine Ewigkeit, doch gerade in dem Moment, als der Sturm anfing schwächer zu werden, rührte Tiu sich. Sie hustete und spuckte schwarzes Wasser aus. Vielleicht war es der Sturm, vielleicht die Verzweiflung ihres Vaters oder vielleicht das Opfer ihrer toten Freunde, den Luchorpán, doch Tiu überlebte.

Als sie in der Lage war, ihre Augen zu öffnen und die gigantische Kreatur erblickte, die sich über sie beugte, war sie kurz davor vor Angst aufzuschreien. Doch sie erblickte einen bekannten Ausdruck in den Augen. Mit der Intuition eines Kindes hob sie ihre Hand und berührte die rinden-ähnliche Nase.

„Vater?“, sagte sie.

Eochaid brach in Tränen aus, riesige Tropfen liefen über sein Gesicht und platschten Tiu ins Gesicht. „Ja, ich bin es. Der Sturm hat mich verwandelt, um dich retten zu können. Vielleicht war es auch der Mond. Es spielt keine Rolle. Du lebst, Tiu.“

„Danke, Vater“. Tiu fing ebenfalls an zu weinen und als sie sich aufrichtete, zeigte sie auf die kleinen, schrumpeligen Körper am Ufer. „Wir müssen sie begraben.“

Vater und Tochter gruben in der Erde und dem Moos, dass das Ufer gebildet hatte, wo Tiu und ihre Freunde gespielt hatten. Sie sprachen einige Worte zu Ehren der Luchorpán und wurden vom abflachendem Sturm reingewaschen.

Als sie zu ihrer Hütte zurückkehrten, um nach Teia zu sehen, hörten sie die Schreie eines Mannes durch den Sumpf hallen. Tiu kletterte an Eochaids knorrigem Körper hinauf, um besser hören zu können. „Meine Freunde haben den Hochkönig gefunden“, sagte sie leise. „Er wird einen langsamen Tod sterben. Geschieht ihm ganz Recht.“

Eochaid nickte. Er fragte sich, was Teia zu seinem Schwur sagen würde und strich über die Stelle in seiner Brust, in der er den Knoten vorher gespürt hatte. Das Fleisch dort war hart und verdreht, wie die Windungen eines Baumes. Er wusste, dass seine Frau sagen würde, dass er zu lange an seiner Wut festgehalten hatte. Bis zu diesem Tage sagt man, dass ein Fir Bog, der aufgrund der Rauheit der Welt verbittert, mit Windungen und Knoten in seinem Herzen gebrandmarkt wird.

Viele Jahre später, als der blaue Mond erneut ein Unheil verkündete, nahmen sich Teia und Eochaid am Ufer des tiefen Sumpfes an den Händen. Sie erneuerten ihr Gelübde und stiegen gemeinsam ins schwarze Wasser.

Dort lebten sie für den Rest ihres Lebens, während ihre Tochter groß und stark wurde, gebrandmarkt vom Sumpf, so wie sie es waren. Sie lernten, dass solange ihre Füße die heiligen Orte des Sumpfes und Waldes berührten, sie wie Wurzeln miteinander verbunden waren. Sie lernten Omen zu deuten, die Gefahr und Veränderung ankündigten. Vor allem aber lernten sie, dass immer wieder verzweifelte Seelen, die nach Veränderung suchten, vom Sumpf und seinen Geheimnissen angezogen wurden. Während diese Seelen an dem Ort einen Neuanfang fanden, vermehrte sich ihre Rasse und erreichte immer mehr Macht und kollektive Weisheit.

Als sich der Zirkel der Fir Bog von seinen tiefsten Erinnerungen löste, sangen sie die Worte des Wachstums und verstreuten ihre Sinne in der Welt. Das kalte Licht des blauen Mondes schien auf sie hinab, groß und aufrecht oder knorrig und gebückt standen sie da, doch alle waren sie vertieft in ihre Meditation. Sie waren mehr als einfach nur Bewahrer des Sumpfes; ihre Verantwortung gegenüber ihrem Reich und der Welt war weitaus größer, als sich diejenigen, die ihre Last nicht trugen, jemals vorstellen konnten.

Page 1 / 1